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Überfahren am Zebrastreifen.

© /Montage: Tsp

„Konnte nicht mehr bremsen“: Wie Polizeimeldungen Autounfälle verharmlosen

Durch die Wortwahl in Unfallberichten wird besonders der Autoverkehr in ein besseres Licht gerückt, wie Beispiele aus Berlin zeigen. Kritiker sind alarmiert.

Eine 82-Jährige betritt die Storkower Straße in Berlin und wird von dem Auto eines 39-Jährigen gerammt, der „einen Zusammenstoß nicht mehr verhindern“ konnte. Genau wie die VW-Fahrerin in Staaken, die eine 80-Jährige anfährt. Auch der Caddy-Fahrer in der Scharnweberstraße „konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen“, wie die Polizei nach dem Unfall mitteilte.

Ebenso die BMW-Fahrerin auf dem Mehringdamm, der Taxifahrer am Michaelkirchplatz und die Skoda-Fahrerin in der Gallwitzallee, die auch „nicht mehr ausweichen konnte“ – deren Auto nichtsdestotrotz wegen des Verdachts auf technische Mängel beschlagnahmt wurde, wie weiter unten im Text steht. Womöglich waren also Bremsen oder Lenkung kaputt.

Diese und mindestens ein Dutzend weitere Unfälle meldete die Polizei in den vergangenen Monaten mit den zitierten Formulierungen. Sie klangen, als wären sie aus der Perspektive des verständnisvollen Beifahrers geschrieben, der den Fahrern bescheinigte, trotz perfekter Reaktion keine Chance gegen die Unaufmerksamkeit der Fußgänger zu haben – die wegen ihrer schweren Verletzungen ohnehin selten befragt werden konnten.

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Die Meldung zum Unfall in der Storkower Straße hätten aber auch lauten können: „39-Jähriger rammt 82-Jährige, als sie die Fahrbahn betritt.“

Die Schuld der einen oder anderen Partei zuzuweisen, sei gerade nicht beabsichtigt, sagt Thilo Cablitz, der die Pressestelle der Berliner Polizei leitet. Beispielsweise sei die Formulierung, dass jemand nicht rechtzeitig bremsen konnte, „ als Indikator für überhöhte Geschwindigkeit“ zu verstehen.

„Übersehen“ meint eigentlich „missachten“

Missverständlich sind auch Fälle wie der des BMW-Fahrers, der im Buschgrabenweg eine „vorfahrtsberechtigte 82-jährige Radfahrerin übersah“ und ein Unglück in Lichtenrade, wo ein Opelfahrer rückwärts aus einem Grundstück fuhr und eine 89-Jährige auf dem Gehweg „übersehen haben“ soll. Anders gesagt: Er missachtete ihren Vorrang.

Genau wie die Autofahrerin, die kurz vor Weihnachten eine 44-Jährige an einem Zebrastreifen anfuhr und schwer verletzte. Auch in dieser Meldung schrieb die Polizei „übersehen“. Dabei dürften mindestens die beiden letztgenannten Fälle juristisch als fahrlässige Körperverletzungen mit gravierendem Verschulden der Autofahrer verfolgt werden, denn der Vorrang von Fußgängern an Zebrastreifen ist in der Straßenverkehrsordnung ebenso klar geregelt wie die Maßgabe, dass beim Rückwärtsfahren „eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist“.

Formulierung könnte als Vorverurteilung verstanden werden

Polizeisprecher Cablitz sagt dazu, dass ein „missachteter Vorrang“ womöglich als Vorsatz aufgefasst werden könnte. Das wäre in den meisten Fällen nicht nur neben der Wahrheit, sondern auch juristisch heikel, weil es als Vorverurteilung verstanden werden könnte. Schließlich entstünden Polizeimitteilungen meist am Anfang eines Strafermittlungsverfahrens – und basierten auf den Berichten der Beamten, die von vielen Unfallverursachern ein verzweifeltes „Ich habe ihn/sie einfach nicht gesehen“ hören.

Sonst ist für die Schuldfrage besonders relevant, ob die Autofahrer mit angemessenem Tempo unterwegs waren. Denn davon hängt ab, ob jemand „nicht mehr bremsen“ oder „den Zusammenstoß nicht mehr verhindern“ konnte. Geklärt werden kann das in aller Regel nur durch Gutachten von Sachverständigen, die erst Monate nach dem Unfall vorliegen.

Deshalb beantwortet die Polizei auch keine Nachfragen zum mutmaßlichen Tempo von Unfallbeteiligten – selbst wenn das Trümmerfeld auf extreme Raserei deutet. Cablitz sagt, die Zeugenaussagen zur Geschwindigkeit seien oft widersprüchlich und sehr subjektiv. Und die Pressestelle stecke stets in dem Dilemma, auf solcher Basis möglichst objektive Informationen geben zu müssen. „Es gibt keine Weisungslage“, wie zu formulieren sei. Keinesfalls solle Fehlverhalten verharmlost werden.

Nur klingt es eben vielleicht zu harmlos, wenn ein 47-Jähriger, der nicht einmal einen Führerschein hatte, beim Linksabbiegen in Zehlendorf ein Ehepaar „übersah“ und anfuhr – also gleich mehrere Straftaten beging. Erst auf Nachfrage hieß es von der Pressestelle: „Der Autofahrer ist der mutmaßliche Verursacher.“

Fußgänger kreuzen meist „plötzlich“ Verkehrswege

Fußgänger dagegen treten in Polizeimeldungen oft „plötzlich“ auf die Fahrbahn – beispielsweise ein 78-Jähriger in Spandau und ein 82-Jähriger in Reinickendorf. Oder im Mai 2018, als es laut Polizeimitteilung „zum Zusammenstoß kam“ zwischen einem Dreijährigen, der aus einem Lokal „plötzlich auf den Gehweg lief“ und dort von einem Radfahrer gerammt und schwer verletzt wurde. Der Radfahrer benutzte nicht nur verbotswidrig den Gehweg, sondern hatte obendrein 0,5 Promille intus.

Apropos Alkohol: Im Dezember 2019 meldete die Polizei einen schwerverletzten Autofahrer, der „aus bislang ungeklärter Ursache“ in Friedrichshain in eine Hauswand gekracht war – und 1,2 Promille hatte, wie weiter unten stand. Damit war er laut Rechtsprechung „absolut fahruntüchtig“ und beging selbst ohne Unfall eine Straftat. Polizeisprecher Cablitz sagt, man wisse im Einzelfall nicht, wie fit ein womöglich an Alkohol gewöhnter Fahrer noch sei.

Darstellung der Polizei kein böser Wille

Der gelernte Stadtplaner und Journalist Roland Stimpel vom Fachverband FUSS e.V. verfolgt die Thematik seit Langem. Er teilt die Kritik an der Formulierung vieler Polizeimitteilungen, die keineswegs nur Berlin betrifft. Dahinter steckt nach Stimpels Beobachtung kein böser Wille, sondern die gedankenlose Dokumentation der Perspektive, die Polizeibeamten mit Berufserfahrung aus dem Streifenwagen die vertrauteste ist.

Und weil viele Medien die Polizeimeldungen nahezu unverändert weiterverbreiten, hat sich die Art der Formulierung verfestigt. „Aber die Sensibilität ist gewachsen“, konstatiert Stimpel zumindest für die Berliner Polizei. „Man hat den Eindruck, manche haben es verstanden. Allerdings nicht jeder“. Das Thema mal mit der Polizei zu erörtern, „ist eines unser vielen Vorhaben“, sagt Stimpel.

Der Lobbyist hat ein Glossar angelegt, in dem „erfassen“ und „touchieren“ als Verharmlosung für „rabiates Rammen oder Überfahren“ stehen. Unter „plötzlich“ wird die Perspektive umgekehrt: „Als das Kind die Fahrbahn überquerte, kam plötzlich ein Auto.“ Wer schreibe, dass jemand „nicht auf den Verkehr achtet“, halte den Autoverkehr für den einzig existierenden, von Fußgängern nicht zu störenden Verkehr.

Kritik an Polizeimeldungen

Vor allem über Social-Media-Kanäle werden sowohl Polizei als auch Medien für manche Formulierungen massiv kritisiert. Einige wollen schon Sätze wie „Lkw überfuhr Radfahrerin“ nicht akzeptieren: Ein Lkw fahre ja nicht selbst, sondern befinde sich in der Verantwortung der Person am Steuer. Andererseits gilt das auch für andere Fahrzeuge, eine S-Bahn etwa – und spätestens da, wenn von einem S-Bahnfahrer gesprochen wird, würde es nach einer vorsätzlichen Tat klingen, die es nicht ist.

Das Thema hat auch den Deutschen Presserat mehrfach beschäftigt. Im Pressekodex steht: „Die vom Unglück Betroffenen dürfen grundsätzlich durch die Darstellung (in den Medien, Anm. der Redaktion) nicht ein zweites Mal zu Opfern werden.“ So wertete der Presserat die Meldung eines Bonner Online-Portals mit der Überschrift „45-jährige Radfahrerin stürzt in abbiegenden Lkw“ als Verstoß gegen die journalistische Sorgfaltspflicht, weil eine Schuld der Radfahrerin suggeriert werde, der ein rechts abbiegender Lkw die Vorfahrt genommen hatte.

Mit einem Fall aus Hannover hatte der Presserat dagegen kein Problem: Ein Radfahrer war in einer Baustelle von einem überholenden Auto gerammt und schwer verletzt worden. In der Meldung stand gleich zwei Mal, dass der Radfahrer keinen Helm trug – und erst im letzten Satz, dass der Autofahrer den Unfall verursacht hatte. Damit seien die Fakten korrekt wiedergegeben worden, befand der Presserat.

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