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Berlin: Krankenkassen: Zum Dahindämmern verurteilt

Jeden Tag besucht Franz Mayer (Name geändert) seine Frau im Dr.-Harnisch-Haus.

Jeden Tag besucht Franz Mayer (Name geändert) seine Frau im Dr.-Harnisch-Haus. Im Juli 1999 fand er sie nicht in ihrem Zimmer im sechsten Stock des Friedrichshainer Seniorenheims. Sie saß stolz lächelnd im Schwesternzimmer am Tisch. Frau Mayer war, auf die Griffe ihres Rollstuhls gestützt und von einer Schwester begleitet, über den Korridor gegangen. "Da war ich so froh. Das war ja einmalig", sagt Franz Mayer. Seit einem Monat findet er seine Frau immer in ihrem Zimmer im Dr.-Harnisch-Haus - mit einem Beckengurt fixiert im Rollstuhl oder in ihrem an den Seiten gepolsterten Bett.

An diesem Morgen sitzt Annemarie Mayer im Rollstuhl. Ihr Kopf zuckt auf und ab. Der Mund öffnet sich weit und schließt sich ruckartig wieder. Die Füße stoßen in unregelmäßigen Abständen auf die Fußrasten des Rollstuhls. Annemarie Mayer leidet an Chorea Huntington. Im Volksmund heißt die chronische, genetisch bedingte Krankheit "Veitstanz". Schuld an der hilflosen Situation seiner Frau sei ihre Krankenkasse, sagt Herr Mayer. Die habe der Neurologin verboten, weiterhin das Medikament aufzuschreiben, das half. Ein Fall, der offenbar denen der MS-Kranken ähnelt, die ebenfalls seit einem Monat nicht mehr mit den Mitteln behandelt werden können, mit denen es ihnen besser ging.

Wie MS ist das Huntington-Syndrom unheilbar. Der Gen-Defekt führt zu einem allmählichen Abbau von Nervenzellen im Gehirn. Im fortgeschrittenen Stadium sind die Kranken nicht mehr zu koordinierten Bewegungen fähig. Sie verlieren ihre Intelligenz bis hin zur Demenz. Frau Mayer war Ende dreißig, als die Krankheit 1974 ausbrach. Chorea Huntington ist bei ihr schon weit fortgeschritten.

Der Zustand seiner Frau, sagt Herr Mayer, habe sich erheblich verschlechtert, seitdem sie ihr Medikament nicht mehr bekomme. Die behandelnde Neurologin schreibe das Psychopharmakon Nitoman nicht mehr auf, weil es zu teuer sei. Rund 750 Mark kostet die Behandlung im Monat. Bis zu 20 Patienten soll die Ärztin mit dem nur in England zugelassenen Medikament behandelt haben. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) und die Krankenkasse hätten sie deswegen verwarnt. Wenn sie weiterhin Nitoman und nicht das halb so teure sogenannte "Mittel der ersten Wahl", Tiapridex, verschreibe, drohe ihr eine Regressforderung.

Frau Mayer hat Tiapridex bekommen. Sie gewöhnte sich aber schnell daran, und die Dosis musste so stark erhöht werden, dass sie nur noch vor sich hin dämmerte, sagt Kurt Münchschwander, Wohnbereichsleiter im Dr.-Harnisch-Haus. Daraufhin habe ihre Neurologin sie auf Nitoman umgestellt, ein Mittel, das Huntington-Spezialisten und die Deutsche Huntington-Hilfe e.V. empfehlen. Es soll die Patienten körperlich ruhig stellen, ohne sie schläfrig zu machen.

Mit Nitoman, sagt Herr Mayer, ging es seiner Frau zusehens besser. Sie konnte wieder ein bisschen laufen. Sie konnte zwar nicht sprechen, reagierte aber, wenn er sie ansprach. Er konnte kleine Geschicklichkeitsübungen mit ihr machen. Ein Fünf-Mark-Stück konnte sie ins Sparschwein stecken. Jetzt kann sie es nicht mehr festhalten.

Franz Mayer sitzt fassungslos neben seiner Frau. Er hält ihre Hand, streichelt sie begütigend. Annemarie Mayer zuckt und stampft mit den Füßen. Aus ihrem Mund dringen unverständliche Laute. "Sie ist so ein lieber Mensch und sie hängt auch so an ihren Kindern", sagt der Mann. Warum die Schwerkranke und drei weitere "Veitstanz"-Patienten des Heims "jetzt auch noch mit dem Entzug des Medikament bestraft werden", kann er nicht verstehen.

Eine schlüssige Erklärung gibt es nicht. Eine klare Schuldzuweisung scheint kaum möglich. Der Kasse und der KV seien einfach aufgefallen, dass die Neurologin bei Chorea Huntington Nitoman und nicht Tiapridex verordnet, sagt Ulrike Faber, Pharmakologin von der Barmer Ersatzkasse (BEK). Die Spezialistin ist Sprecherin der Berliner Krankenkassen, wenn es um umstrittene Verordnungen geht. Niemand verbiete der Ärztin, Nitoman zu verschreiben. Sie müsse nur begründen, warum sie sich nicht für das Mittel der ersten Wahl entscheide. Wenn der Medizinische Dienst der Begründung der Ärztin allerdings nicht folge, drohe ihr ein Regress. Die Neurologin selbst möchte zu den Friedrichshainer Fällen keine Stellung nehmen.

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