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Berlin: Kriminalität: Opfer der Ignoranz

Straßenbahn-Fahrgäste schauen in Hellersdorf zu, wie Neonazis zwei libanesische Frauen verprügeln. In einem Köpenicker Plattenbau schlagen Eltern einen Dreijährigen zu Tode, ohne dass sich ein Nachbar rührt.

Straßenbahn-Fahrgäste schauen in Hellersdorf zu, wie Neonazis zwei libanesische Frauen verprügeln. In einem Köpenicker Plattenbau schlagen Eltern einen Dreijährigen zu Tode, ohne dass sich ein Nachbar rührt. Und in Neukölln vermisst kein Hausbewohner den Rentner von nebenan, dessen Leiche fünf Jahre lang unbemerkt in der Wohnung liegt. Nur eines haben die drei extremen Fälle aus den Polizeiberichten der vergangenen drei Tage miteinander gemein: In allen drei Fällen wurden Menschen auch zu Opfern der Gleichgültigkeit und Ignoranz unbeteiligter Nachbarn. Im Ernstfall, so scheint es, ist das Großstadtleben besonders einsam: Bei Lebensgefahr sind wir allein, selbst wenn wir von Menschen umgeben sind. Ein Zustand, den Berlins Ausländerbeauftragte für pathologisch hält. "Eine Gesellschaft, in der so etwas passiert, ist krank", sagt Barbara John. "Die natürlichen Reflexe funktionieren nicht mehr."

Die Libanesin Nasrine S. ist am Mittwoch zusammen mit ihrer 46-jährigen Schwiegermutter, ihrem siebenjährigen Sohn und einer 42-jährigen Tante auf dem Nachhauseweg vom Einkaufen, als die Gruppe an einer Straßenbahnhaltestelle in Hellersdorf von vier Jugendlichen angepöbelt wird. In der Straßenbahn werden die Neonazis gewalttätig, beschimpfen und bespucken die Frauen und schlagen schließlich auf Nasrine und ihre Schwiegermutter ein. Es ist kurz nach 16 Uhr. Die Bahn ist voll besetzt, und alle sehen nur tatenlos zu. Barbara John ist fassungslos: "Da stimmt irgendetwas nicht mehr mit uns."

Gegen die allgemeine Tendenz, wo es für andere brenzlig wird, lieber wegzuschauen als einzugreifen, haben selbst zahlreiche Anti-Gewaltprogramme, Präventivprojekte, Hilfs- und Beratungsangebote, die in den vergangenen Jahren mit Millionensummen öffentlicher Gelder ins Leben gerufen wurden, offenbar nur wenig ausrichten können. Für Ausnahmebeispiele von Zivilcourage, die eigentlich selbstverständlich sein sollten, gibt es deshalb Belobigungen von der Ausländerbeauftragten persönlich, etwa für die Gruppe von Schülern, die sich in der Disco für einen Schwarzafrikaner einsetzten, als dieser angegriffen wurde.

Die Regel, das weiß auch Barbara John, bleibt Passivität. Die Ausländerbeauftragte nennt dafür zwei Ursachen: "In der Großstadt stumpfen die Menschen ab" - als Reaktion auf Stress und Reizüberflutung. Und zum anderen verfielen die meisten angesichts bedrohlicher Lage in eine Starre. Die eigene Furcht, sich in eine unübersichtliche Situation einzumischen und möglicherweise die Kontrolle zu verlieren, verleitet zur Gleichgültigkeit. "Doch auf Dauer", sagt Barbara John, "kann sich das eine Zivilgesellschaft nicht leisten. Sie verliert ihre Schutzmechanismen". Zivilcourage sei jedoch nicht allein mit Projekten zu vermitteln, sondern "eine Haltung und Gesinnung, die beispielhaft vorgelebt werden muss".

Barbara John hat deshalb wenig Verständnis für des Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei, der Verständnis für das bewusste Wegschauen bei Gewalttaten zeigte, weil Zeugen, die sich der Polizei zur Verfügung stellten "viele Schwierigkeiten in Kauf nehmen" müssten. Die Ausländerbeauftragte hält solche Äußerungen für "kontraproduktiv".

Größer noch als im öffentlichen Raum scheint die Zurückhaltung zu sein, wenn es um die Gewalt im eigenen sozialen Umfeld geht. "Es ist noch einmal eine viel höhere Schwelle, an einer verschlossenen Wohnungstür zu klingeln und zu fragen, was da los ist", sagt Barbara Kavemann. Im Auftrag des Bundesfamilienministeriums begleitet die Soziologin mehrere bundesweite Interventionsprojekte gegen häusliche Gewalt. Nicht immer sei es Gleichgültigkeit, wenn Menschen davor zurückschrecken, sich bei verdächtigen Beobachtungen ins Leben der Nachbarn einzumischen. "Oft ist es einfach Angst und Ratlosigkeit, die Menschen davor zurückschrecken lässt, nachzufragen oder die Polizei zu rufen."

Vielleicht hätte gesteigerte Aufmerksamkeit und Mut zum Eingreifen auch das Leben des dreijährigen Jannek retten können, den seine 27-jährige Mutter und ihr 19-jähriger Freund in Köpenick zu Tode quälten. Beide sitzen jetzt in Untersuchungshaft. Der Vorwurf lautet auf gemeinschaftlichen Mord. Um Ärzte und Pflegepersonal für das Thema häusliche Gewalt zu sensibilisieren, wurde im Oktober 1999 das Modellprojekt "Signal" am Universitätsklinikum Benjamin Franklin gestartet. In Fortbildungen und Schulungen soll dem medizinischen Personal die Hemmschwelle genommen werden, vermeintliche Opfer von häuslicher Gewalt anzusprechen und ihnen Hilfe anzubieten. Bis dahin ist es nach Ansicht von Hildegard Hellbernd, wissenschaftlicher Betreuerin des Projekts, noch ein langer Weg: "Erst langsam wächst die Aufmerksamkeit und das Bewusstsein unter Ärzten, Schwestern und Pflegern, in diesem Bereich präventiv wirken zu können."

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