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Augen zu. Experten glauben, auf jeden gemeldeten Misshandlungsfall kommen 400 nicht gemeldete.

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Kritik am Kinderschutzgesetz: Kinderschutz - ohne hinreichendes Gesetz

520 Fälle von Kindesmisshandlung erfasste die Polizei 2013 in Berlin. Kein Wunder: Problematische Familien werden mangelhaft betreut, verbindliche Standards und Dokumentation fehlen. Ein Weckruf.

Die sieben Monate alte Lena aus Neukölln hatte Knochenbrüche, als hätte man sie aus dem dritten Stock fallen lassen. Schon seit Wochen war dem Mutter-Kind-Heim eines freien Trägers bekannt, dass das Kind Verletzungen aufwies. Drei Tage bevor Lena getötet wurde, gab es eine Helferkonferenz im Jugendamt: Der unter Verdacht stehende 17-jährige Vater durfte in dem Mutter-Kind-Heim weiter ein- und ausgehen. Es hat ein Jahr gedauert bis im September 2013 ein Expertenbericht vorlag, der vom zuständigen Stadtrat des Neuköllner Bezirksamts, Falko Liecke, in Auftrag gegeben wurde. Eine Pressekonferenz, von der zwischenzeitlich die Rede war, fand nie statt. Das Ergebnis wurde totgeschwiegen.

Aus dem Expertenbericht: „Es war Hilfe und Unterstützung angezeigt, keinesfalls Kontrolle. Bedrohliche Szenarien wurden abgespalten. Die junge Mutter hatte einen oberflächlichen Kontakt zu den Fachkräften, eine tiefer gehende vertrauensvolle Beziehung war nicht möglich. Diese Sprachlosigkeit fand ihren Höhepunkt darin, dass Signale der Mutter, die Tochter habe blaue Flecke, nicht aufgenommen, sondern beiseite geschoben wurden.“

Für den Kinderschutz in Deutschland ist ein System von öffentlichen und freien Trägern zuständig. Es besteht aus Psychologen, Sozialarbeitern, Medizinern, selbstständig oder im öffentlichen Dienst, und den freien Trägern der Jugendhilfe, von denen die größten Diakonie, Caritas, Deutscher Kinderschutzbund oder Arbeiterwohlfahrt heißen. Mit zwei Millionen Angestellten sind die Wohlfahrtsverbände Deutschlands größter Arbeitgeber. Die sozialen Dienstleistungen werden mit 115 Milliarden Euro vom Staat finanziert, 7,5 Milliarden Euro werden für die „Hilfen zur Erziehung“ ausgegeben.

2013 wurden laut Polizeilicher Kriminalstatistik in Deutschland 153 Kinder tödlich misshandelt, 113 von ihnen waren jünger als sechs Jahre. Pro Woche versterben also drei Kinder an den Folgen von Misshandlung. In Berlin hat Gewalt gegen Kinder in einigen Bereichen zugenommen. Die Polizei erfasste hier im vergangenen Jahr 520 Fälle von Kindesmisshandlung. Das waren 21 mehr als 2012. Bei der Dunkelziffer von Fällen überlebter Kindesmisshandlung gehen kriminologische Studien von einem Faktor 400 aus. Das heißt, auf jeden bekannt gewordenen Fall kommen 400 nicht bekannt gewordene Fälle. Kindesmisshandlung ist ein Delikt, das sich fast ausschließlich im direkten familiären Umfeld ereignet.

Alle Todesfälle von Kindern, die in den letzten sieben Jahren Aufmerksamkeit in den Medien erregten, wurden von freien Trägern der Jugendhilfe und den zuständigen Jugendämtern betreut. Bis heute gibt es kein Gesetz für Kinderschutz, das die zugrunde liegenden Probleme aufgreift und viel vom unsagbaren Leid misshandelter Kinder verhindern könnte.

Die Tagesmutter von Kevin aus Bremen stellte 2007 einen gebrochenen und geschwollenen Fuß, am ganzen Körper blaue Flecken und einen geschwollenen Penis fest. Von einem Kinderarzt wurde sie abgewiesen mit dem Hinweis, es sei unzulässig, ihn mit einem fremden Kind ohne Einwilligung des Erziehungsberechtigten aufzusuchen. Der Jugendamtsmitarbeiter wies die Tagesmutter an, Kevin dem Ziehvater zu übergeben, obwohl er von ihr über die Verletzungen informiert wurde. Dieser tötete wenig später den Zweijährigen und versteckte ihn in einer Gefriertruhe. Kevin wurde von seiner Geburt bis zu seinem Tod von einem Jugendamt betreut.

Dieser Fall zeigt: Eine stärkere Vernetzung der Beteiligten im Kinderschutz wäre dringend notwendig. Kinderärzte müssten mit Jugendämtern in Kontakt treten oder die Polizei informieren und im Verdachtsfall für eine gerichtsmedizinische Diagnostik sorgen. Jugendamtsmitarbeiter müssten Hinweisen nachgehen, um Kindesmisshandlung zu erkennen, und das Kind seinen Peinigern entziehen.

Zu 70 Prozent bestehen die Aufgaben eines Jugendamtsmitarbeiters aus administrativer Arbeit

Der Regionalleiter des Jugendamtes Neukölln-Nord, Norbert Schramm, dessen Amt für den Fall Lena zuständig war, sagt: „Zu 70 Prozent besteht der Aufgabenbereich eines Jugendamtsmitarbeiters aus administrativer Arbeit und nur zu 30 Prozent aus Sozialarbeitsaufgaben.“ Der Grund für diese Verschiebung: Die Jugendämter haben ihre Aufgaben an sogenannte freie Träger abgegeben, die die Fälle bearbeiten. Sie werden in Berlin vom Haushalt des jeweiligen Bezirksamtes finanziert. Das Jugendamt soll nur noch steuern.

Dass dieses System für die Träger ein lukrativer Markt ist, äußert ein Beteiligter des Jugendhilfeausschusses eines Berliner Bezirksamtes, der unbenannt bleiben möchte: „Bei jeder Familie wird irgendetwas bewilligt. Kann ja nicht schaden, und man ist tätig geworden. Die Hilfen zur Erziehung sind eine Lizenz zum Gelddrucken für die Träger. Alles völlig unkontrollierbar – und Kontrolle ist auch gar nicht erwünscht. Die Politik ist sich eins mit den Trägern, man pflegt ein gutes Verhältnis miteinander. Träger sind per se Gutmenschen, die ausschließlich hervorragende Arbeit leisten. Im Jugendhilfeausschuss sitzen Bezirksverordnete und Vertreter von ebendiesen Trägern.“

Zehn Berliner Jugendamtsdirektoren forderten kürzlich in einem offenen Brief an die politisch Verantwortlichen, den Personalabbau in den Jugendämtern zu stoppen, da dies auch für den Kinderschutz verheerende Folgen habe. Gleichzeitig räumen sie aber in ihrem Schreiben ein, falls dieser Personalabbau politisch unumgänglich wäre, solle man die Übertragung der gesetzlichen Aufgaben auf Dritte im Rahmen der gesetzlichen und fachlichen Möglichkeiten gewährleisten.

Politisch unumgänglich sollte tatsächlich eine Gewährleistung des Kinderschutzes sein. Dass er aber in der vorgeschlagenen Richtung auch funktionieren kann, ist schon im Status quo sehr fraglich, das müssten die Beteiligten wissen. Das Outsourcen der eigentlichen Aufgaben an die freien Träger hat dazu geführt, dass Jugendamtsmitarbeiter den Überblick über die Fälle verloren haben. Den Fall nur zu steuern, bedeutet auch, die Verantwortung dafür zu delegieren – mit bisweilen verheerenden Folgen.

Der Großvater von Lea-Sophie in Schwerin etwa ging zum Jugendamt, um mitzuteilen, dass seine vierjährige Enkelin nur noch zehn Kilo wiege und er sich große Sorgen um sie mache. Der Jugendamtsmitarbeiter machte sich lediglich eine handschriftliche Notiz auf ein loses Blatt. Ihm fiel auch nicht das enorme Untergewicht für eine Vierjährige auf. Die Eltern des Kindes wurden ins Jugendamt bestellt, kamen ohne das Kind und verweigerten eine Zusammenarbeit, aus Wut über die „Anzeige“ des Großvaters. Hier wäre ein Hausbesuch, um sich ein Bild von dem Zustand des Kindes zu machen, viel angebrachter gewesen. Dieser ist aber gesetzlich nicht vorgeschrieben, sondern liegt im Ermessen des Mitarbeiters.

Auch die Loyalität mit dem Großvater wäre professionell gewesen. Diesen schickte man immer wieder weg mit dem Hinweis, man könne hier nur noch auf freiwillige Annahme von Hilfe setzen.

An diesem Fall wird deutlich, dass sich der Jugendamtsmitarbeiter hier seines Wächteramtes nicht bewusst war, sondern im Kopf die Arbeit schon an Dritte, etwa die Familienhilfe oder andere Maßnahmen freier Träger, delegiert hatte. Laut Gesetz ist er aber nach wie vor der eigentlich Verantwortliche für den Fall. Durch die Bloßstellung des Großvaters vor der eigenen Tochter, die ihr Kind nicht versorgte, verlor Lea-Sophie ihren einzigen Verbündeten. Sie verhungerte.

Keine Dokumentation, keine Evaluation

Mit den Todesfällen von Kevin und Lea-Sophie im Jahr 2007 begann eine mediale Aufmerksamkeit wie nie zuvor und der damit verbundene Druck auf die politisch Verantwortlichen. Das Funktionieren des Jugendhilfesystems wurde infrage gestellt. Es gab im Dezember 2007 einen Gipfel im Kanzleramt mit den Ministerpräsidenten, damit war das Thema auf Bundesebene. Ein System, in dem auch 2013 noch, statistisch gesehen, jede Woche drei Kinder zu Tode kamen, schien spätestens ab hier reformbedürftig.

Im Jugendhilfesystem selbst allerdings erfolgte 2007 trotz der öffentlichen Debatte kein kritisches Infragestellen. Es wurde von bedauerlichen „Einzelfällen“ in einem ansonsten „funktionierenden System“ gesprochen. Ein Kinderschutzgesetz wurde von öffentlichen und freien Trägern abgelehnt. Stattdessen stieg seit 2007 die Zahl der Inobhutnahmen von Kindern durch das Jugendamt um 40 Prozent.

Dabei kam es wieder zu katastrophalen Fehlern. Kinder wurden aus ungeklärten Verdachtsmomenten heraus aus Familien gerissen, auch hier ohne sich über Hausbesuche und Gespräche ein Bild von der Situation der Familie zu machen. Dem Europäischen Parlament liegen Hunderte von Beschwerden geschädigter Eltern vor. Die deutschen Jugendämter sind in Brüssel ein Sorgenkind.

2009 verhungert im Hamburg Lara-Mia, ein vom Jugendamt über einen freien Träger betreutes neun Monate altes Mädchen. Die Familienhelferin verbrachte jede Woche mehrere Stunden mit der Mutter. Diese versicherte, sie sei bei den U-Untersuchungen gewesen, kontrolliert hat die Familienhelferin das gelbe Heft nicht. Die Hilfe für die Mutter stand im Vordergrund. Es griff das Muster, zunächst die Eltern und nur daneben und nachrangig das Kindeswohl zu sehen.

Die 563 Jugendämter in Deutschland arbeiten unterschiedlich. Wie kann ein derart bedeutender Bereich ohne einheitliche Standards und Verfahren arbeiten? Wünschenswert wäre beispielsweise eine elektronische Fallakte – übersichtlich, zugänglich, durchsuchbar. Dieses für eine transparente und qualitative Jugendhilfe unverzichtbare Instrument sollte bundesweiter Standard werden. Die Fallakte von Kevin aus Bremen war dagegen eine „ungeordnete Loseblattsammlung“.

Die Gesetzesreform scheiterte am geschlossenen Widerstand der Fachwelt

Eine valide Evaluation von Jugendhilfemaßnahmen findet flächendeckend nicht statt. Einheitliche Regelungen für Pflegeeltern, Auswahl, Kontrolle, Unterstützung – nicht vorhanden. Das hätte 2012 der zehnjährigen Chantal aus Hamburg das Leben retten können. Ihrer Betreuerin fiel nicht auf, dass sie bei den Pflegeeltern kein eigenes Bett hatte. Dass die Pflegeeltern straffällig und drogenabhängig waren, wusste der Träger nicht. Das Mädchen starb an einer Überdosis Methadon, die in der verwahrlosten Wohnung herumlag. Einheitliche Regelungen, wie Träger Qualität sicherstellen – nicht vorhanden.

Der Gesetzgeber rang sich 2009 zum Versuch eines Kinderschutzgesetzes durch. In einem Entwurf von der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen sollte der besagte Hausbesuch durch das Jugendamt Pflicht werden. Die Meldepflicht an das Jugendamt für sonstige Berufsgruppen, etwa Lehrer und Kinderärzte, sollte ebenfalls Eingang in das Gesetz finden.

Georg Ehrmann, der damals noch Geschäftsführer der Deutschen Kinderhilfe war und mit in den Gremien saß, konstatiert: „Das Gesetz scheiterte am geschlossenen Widerstand der Fachwelt, mit Vertretern des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Caritas, Diakonie, Deutschem Kinderschutzbund und Arbeiterwohlfahrt.“

Auch eine Reihe von Fachstandards sollten eingeführt werden, die die Jugendämter mit den freien Trägern festlegen: In Bezug auf die Ergebnisdokumentation der Hilfen und der Gefährdungseinschätzung. Dazu Georg Ehrmann: „Von den freien Trägern kamen ideologische Bedenken gegen jegliche Art von Standards oder gar Kontrollen, getreu dem Motto: Wir Pädagogen und Sozialarbeiter wissen selbst am besten, was die Klienten brauchen.“ Auch Kommunen und Länder hemmten aus Sorge vor Mehraufwand und Haftung bei Verstößen. So wurde aus dem Gesetz, das im Entwurf den Kinderschutz hätte revolutionieren können, ein folgenloser Kompromiss, der lediglich vorgibt, die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollten sich „an bereits angewandten Grundsätzen und Maßstäben für die Qualität sowie Maßnahmen zu ihrer Gewährleistung“ orientieren.

Im Gesetz fehlt eine Verpflichtung des Jugendamtes, Jugendhilfemaßnahmen einer Qualitätskontrolle zu unterziehen und zu evaluieren. Es gibt keine Vorgabe für die Verträge mit den freien Trägern, die elektronische Fallakte wird nicht vorgeschrieben, ebenso wenig die konkrete Vorgehensweise zur Erkennung von Misshandlungen und die Dokumentation der Arbeit.

Kathinka Beckmann, Professorin für Sozialpädagogik an der Universität Koblenz, hält eine fachliche Kontrolle der Jugendämter für längst überfällig: „Ich würde mir in einem überarbeiteten Kinderschutzgesetz bundeseinheitliche Fachstandards für die 563 Jugendämter wünschen. Auch ein fachlich geschultes Kontrollorgan, das von den Landesjugendämtern ausgehen könnte, wäre notwendig.“ Dieses den Jugendämtern übergeordnete Amt in jedem Bundesland ist bislang zuständig für die Fortbildung und für die Betriebserlaubnis für freie Träger.

"Eine Jugendamtsdirektorin lügt nicht."

In Berlin gibt es sogar ohne Gesetz Fachstandards für Jugendämter und freie Träger. Sie stehen in den Rahmenverträgen, die die freien Träger mit der Senatsverwaltung abschließen. Bei der Prüfung eines freien Trägers in der Familienhilfe, stellte sich heraus, dass Fallverläufe nicht dokumentiert wurden, jedenfalls konnte der Träger diese Falldokumentationen nicht vorlegen.

Das ergab eine umfangreiche Prüfung, die die Senatsverwaltung bei dem Träger aufgrund eines Tagesspiegel-Artikels vorgenommen hatte. Trotzdem behaupteten die beiden zuständigen Mitarbeiterinnen aus dem Referat für Hilfen zur Erziehung, der Träger hätte in einem Gespräch versichert, es gebe Falldokumentationen. Die Staatssekretärin für Jugend und Familie, Sigrid Klebba, ist auf einem Termin, bei dem die Mitarbeiterinnen anwesend sind, irritiert, dass diese Falldokumentationen in den Prüfungsunterlagen nicht vorhanden sind. Als die Mitarbeiterinnen insistieren, auch die zuständige Jugendamtsdirektorin hätte glaubhaft versichert, es gebe Falldokumentationen, lenkt Frau Klebba ein und sagt: „Eine Jugendamtsdirektorin lügt nicht.“

Trotzdem wird vereinbart, bei der Direktorin nachzuhaken. In einem Antwortschreiben fragt diese daraufhin allen Ernstes, was man denn unter Falldokumentation verstehe, der Begriff sei für den Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht gebräuchlich, hier sei eher von Anträgen, Hilfeplänen, Bescheiden die Rede. Die in den Rahmenverträgen bestehende Pflicht zur kontinuierlichen Dokumentation von Fällen ist auf der Leitungsebene dieses Jugendamtes wohl noch nicht bekannt.

Die Senatsverwaltung hatte zuvor schriftlich mitteilen lassen: „Die anlassbezogene Qualitätsprüfung erfolgte auf der Grundlage von Nachweisen zur Falldokumentation. Die Prüfung ergab keine Anhaltspunkte für Qualitätsmängel in der Leistungserbringung und in der Dokumentation.“

Man kann sich aussuchen, ob es sich hier um Unwahrhaftigkeit oder Unvermögen handelt. Beides hätte im Bereich Kinderschutz nichts zu suchen. Die Senatsverwaltung verstößt damit gegen das Kinder- und Jugendhilfegesetz, § 85, in dem der überörtliche Träger als sachlich zuständig für die Erfüllung des § 79 a (Kinderschutzgesetz) erklärt wird, so dass die Senatsverwaltung sich hier nicht an ihre eigenen fachlichen Vorgaben hält.

Das Berliner Referat für Hilfen zur Erziehung hatte eine groß angelegte Studie an 7000 Klienten in Auftrag gegeben, um die Wirksamkeit der Hilfen zur Erziehung zu überprüfen. Der leitende Psychologe dieser Studie bemerkt bereits im Vorwort des Abschlussberichtes: „Die Datenlage ist unsicher. Der Verlauf und die Handlungsziele von Maßnahmen wurden bisher nicht erfasst. Dieses würde die Integration der Studie in eine wirkungsorientierte Hilfeplanung erfordern.“

Die Kosten laufen aus dem Ruder

Es gibt also weder eine Dokumentation der Hilfen noch sind die Hilfepläne so formuliert, dass es darin ein Ziel oder einen Plan für die Hilfe gibt. Das heißt, es wird nur irgendetwas gemacht. Da kann man sich natürlich fragen, wie diese Studie überhaupt vorgegangen und zu Ergebnissen gekommen ist. Der Psychologe kommt am Ende der Studie zu dem Schluss: „Eine wirkungsorientierte Steuerung wird auf Dauer nur funktionieren, wenn die Ziele und Ergebnisse in das Hilfeverfahren integriert sind und in Kooperation mit den Leistungsträgern (freie Träger) dokumentiert und ausgewertet werden. Das wird auch dem Kinderschutz zugutekommen.“

Dass in einem solchen System hohe Fehlerkosten entstehen, erschließt sich aus diesen unklaren Prozessen von selbst. Torsten Puhst von der Senatsverwaltung für Finanzen beklagt: „Die Kosten für die Hilfen zur Erziehung – für Berlin 441 Millionen Euro im Jahr 2013 – laufen immer mehr aus dem Ruder. Ich kann hier aber mit meiner Abteilung nicht ins Fachliche gehen.“ Vor allem aber kommt so die Hilfe bei denen, die sie tatsächlich brauchen, nicht an.

Was ist das für ein merkwürdiger Glaube, eine Hilfsindustrie, die ohne Fachstandards und Qualitätskontrolle auskommt, könne die Kinder schützen? Viele Maßnahmen und viel Geld sollen helfen, genaues Hinsehen und Reagieren ist nicht gefragt. Sogar Teile der Wissenschaft haben sich mit diesem System verbündet. Ulrike Urban-Stahl, Professorin für Sozialpädagogik an der Freien Universität in Berlin, hat dazu in einer NDR-Dokumentation ein aufschlussreiches Statement gegeben: „Erhöhter Druck, erhöhte Kontrolle, schädigt eigentlich den Kinderschutz, weil der Zugang zu den Familien noch mal erschwert wird dadurch. Wenn Familien Angst haben, sobald sie sich an ein Hilfesystem wenden, werden sie kontrolliert und müssen Eingriffe befürchten, dann werden sie das gar nicht erst tun. Und damit kommen wir überhaupt erst gar nicht an die Familien heran, oder die Familien kommen gar nicht erst an uns heran.“

Das klingt wie aus dem Werbeprospekt eines freien Trägers für Familienhilfe. Um wen geht es hier? Um die Kinderschützer oder um den Kinderschutz? Die Wissenschaft sollte sich darüber im Klaren sein, dass sie sich so zum Komplizen eines Systems macht, das Verantwortung und fachliches Handeln ablehnt. Sollte der Gesetzgeber Vertreter dieser Art einmal wieder in einem Fachgremium sitzen haben, sollte er sich bei der Überarbeitung des Kinderschutzgesetzes nicht benebeln lassen.

Dieser Text ist in unserer Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.

Barbara Schönherr

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