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Jonathon Keats will 100 Lochkameras in Berlin verteilen, die mit einer Belichtungszeit von 100 Jahren das Stadtleben dokumentieren sollen.

© dpa

Künstler verteilt Lochkameras in Berlin: Hundert Jahre für zehn Euro

Der Amerikaner Jonathon Keats fordert die Berliner auf, Lochkameras in der Stadt zu verteilen. Mit einer Belichtungszeit von 100 Jahren entstehen Bilder für die Ewigkeit.

Wie Fotokameras sehen die kleinen Metallboxen nicht aus, die der New Yorker Künstler Jonathon Keats in Berlin verteilen will. Im Innern befindet sich lediglich ein Stück schwarze Pappe. Das Prinzip gleicht dem der Lochkamera: Das Licht fällt durch ein winziges Loch auf der Vorderseite der Box, und so soll über die nächsten 100 Jahre ein Bild entstehen. 96 Cents koste ein Exemplar. 100 Kameras mit einer Belichtungszeit von 100 Jahren – das ist der Plan. Jonathon Keats wünscht sich, dass Berliner die kleinen Metallboxen in ihren Kiezen verteilen, an Orten, die ihnen wichtig sind.

„Berlin ist eine Stadt im Wandel“, sagt der 43-jährige Mann mit der achteckigen Brille. 2007 kam er zum ersten Mal für eine Ausstellung nach Neukölln. Als er zwei Monate später wieder dort war, hatte sich der Kiez schon enorm verändert. „Ich war geschockt“, sagt er. Den Wandel der Stadt wolle er aber nicht beurteilen, sondern einfach dokumentieren.

Und das funktioniert so: Wenn ein Haus nach 30 Jahren abgerissen und durch einen Wolkenkratzer ersetzt wird, dann erscheint auf der schwarzen Pappe nur noch die Silhouette des Gebäudes. „Der Schatten der Vergangenheit bleibt,“ sagt Jonathon Keats.

Er möchte, dass die Berliner selbst die Kameras verteilen. „Ich komme ja nicht von hier“, sagt der Künstler, der zwischen San Francisco und einer italienischen Kleinstadt an der Schweizer Grenze pendelt. „Man stelle sich mal vor, in 100 Jahren fragen sich die Jugendlichen, warum kaum solcher Kameras in Pankow aufgestellt sind“, sagt er. Das wäre dann vielleicht der hippeste Kiez und die Aufnahmen vom Maybachufer nur noch Grüße aus der kultigen Vergangenheit.

Am heutigen Freitagabend kann sich jeder in der Galerie Friedelstraße in Neukölln für zehn Euro eine Kamera kaufen und selbst in der Stadt verstecken. Den Ort der Kamera soll er an seine Kinder weitergeben und aufpassen, dass die Kamera nicht gestohlen wird. Das Geld bekommt man in 100 Jahren wieder, sagt Jonathon Keats grinsend.

Jonathon Keats hat keine Angst, dass die Kameras verloren gehen: "Auch das ist ein Bild der Gesellschaft"

Mit den hundert Kameras sei die Aktion jedoch nicht vorbei – Keats hat große Träume. „Das Projekt soll zum Unesco Weltkulturerbe werden“, sagt er. Künftig solle jedes Kind eine Lochkamera bekommen und an einem Ort verstecken. In hundert Jahren könnte dann an jedem Tag eine Ausstellung stattfinden.

Jonathon Keats fiel schon öfter durch außergewöhnliche Aktionen auf. 2007 drehte er einen Pornofilm für Pflanzen, der deren Wachstum stimulieren sollte. Er zeigt Bienen, während sie Pflanzen bestäuben. Wenige Jahre zuvor ließ er sein Gehirn urheberrechtlich schützen, da es eine Skulptur sei, die durch den Akt des Denkens erschaffen worden sei. Für die Zeit nach seinem Tod sei er unsterblich, da er nach dem kantschen Leitsatz „Ich denke, also bin ich!“ lebt. Ein geschütztes Gehirn sei ein denkendes Gehirn und somit nicht sterblich – zumindest für 70 Jahre nach seinem Tod, so lange gilt der Vertrag.

Seine jetzige Aktion gelte jedoch für immer: „Selbst wenn die Kameras verloren gehen, ist das auch ein Bild der Gesellschaft“, sagt Jonathon Keats. Denn entweder gab es eine Apokalypse – oder die Menschen reden nicht mehr miteinander.

Die Kameras gibt’s heute von 19 bis 24 Uhr in der Galerie Team Titanic in der Friedelstraße 29, Neukölln.

Simon Grothe

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