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KZ Columbiahaus: Das vergessene Gedenken

Im KZ Columbiahaus wurden Tausende gequält, darunter der Polizeifunktionär Emil Winkler. Sein späterer Nachfolger, der langjährige Berliner Polizeipräsident Klaus Hübner, erinnert an das Opfer und die weithin unbekannte Mordstätte

Vor siebzig Jahren starb Emil Winkler. Er wurde erschlagen. Ermordet von der Staatsgewalt. Emil Winkler war Sekretär der „Federation Internationale des Fonctionaires de Police“ (UISP) gewesen.

Im November 1964 wurde ich in Paris zum Sekretär der UISP gewählt. Damit war ich unvermittelt deutscher Nachfolger von Emil Winkler geworden. In zahllosen Protokollen und Aufzeichnungen begegnete ich seinem Namen. Seinem persönlichen Lebensweg nachzuspüren, blieb kein Quäntchen Zeit. Gespräche mit seinen Zeitgenossen wandten sich kaum der Vergangenheit zu. Alle Kraft, die wir gemeinsam aufbrachten, war zukunftsorientiert auf den Aufbau gerichtet. Heute steht mir bei der Frage nach Emil Winkler niemand mehr zur Verfügung, der ihn selbst gekannt hat.

Wenige Archivblätter und einige spärliche Aufzeichnungen vermitteln kaum ein Bild von seinem persönlichen Leben; nur ein einziges Foto gibt es von ihm. Grelles Licht fällt auf das Schicksal seiner Generation, wenig auf die Existenz des Menschen Emil Winkler.

In Peilau, im niederschlesischen Kreis Reichenbach, 60 Kilometer südlich von Breslau, am Eulengebirge – östlich dem Hauptkamm der Sudeten vorgelagert –, wurde Emil Winkler am 7. Mai 1882 geboren. Akten des Landesverwaltungsamts Berlin weisen aus, dass er den Dienstgrad eines Polizeihauptwachtmeisters hatte, als er 1922 die Arbeit im Verband Preußischer Polizeibeamter aufnahm. Ob er am Ersten Weltkrieg als Soldat teilnahm, bleibt ungeklärt. 1924 wurde Frieda Reimann seine Lebensgefährtin. Sie blieb es über seinen Tod hinaus.

Als sich am 26. September 1928 viele Polizei- und Gendarmerieverbände einigten, die „Reichsarbeitsgemeinschaft Deutscher Polizeiverbände – RAG“ zu gründen, wurde Emil Winkler ihr ständiger Sekretär. Im Mai 1931 hatte der Verband 117 125 Mitglieder. Als die „Federation Internationale des Fonctionaires de Police“ im September 1930 beschloss, ihr Sekretariat nach Berlin zu verlegen, arbeitete Emil Winkler nunmehr im Hause Lützowstraße 73, in Berlin W 35, als Geschäftsführer der RAG und als Sekretär der Federation Internationale.

Zu diesem Zeitpunkt verdichteten sich bereits die unheildrohenden Schatten. Die Marschstiefel der braunen SA-Horden dröhnten durch deutsche Straßen, im Januar 1933 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt.

Emil Winkler sollte die Folgen bald am eigenen Leibe erfahren. Am 1. September schlug der braune Mob zu. Mit Lastkraftwagen wurden Ernst Schrader, Chef des Verbands preußischer Polizeibeamter, seine Vorstandskollegen sowie Emil Winkler aus ihren Wohnungen verschleppt. Einem Vermerk des Geheimen Staatspolizeiamts „Gestapa - III3“ vom 13. September 1933 ist zu entnehmen, dass nach Vortrag des Ministerialrats Rudolf Diehls – dem ersten Chef der Gestapo – gegen Winkler und andere Schutzhaft verhängt wurde. Obwohl dieser satanische Begriff erst am 25. Januar 1938 im Schutzhaftbefehl des Reichsministers des Inneren definiert wurde, wurde er hier schon angewendet.

Emil Winkler wurde in das Columbia-Haus am Columbiadamm gebracht, das seit Juli 1933 als Haftort für politische Häftlinge genutzt wurde. Es war 1896 am nordöstlichen Rand des Tempelhofer Feldes als Militär-Arrestanstalt errichtet worden. Auf der gegenüber liegenden Seite des Columbiadamms befand sich das Casernement des Königin-Augusta-Garde-Grenadier-Regiments. Heute ist es eine Unterkunft der Polizei. Bekannt als Friesenstraße, wo Polizeipräsident Dr. Johannes Stumm am 28. Juli 1948 nach der Spaltung Berlins die Polizei neu aufbaute, nachdem der vom Magistrat abgesetzte Polizeipräsident Paul Markgraf unter dem Schutz des sowjetischen Stadtkommandanten Kotikow sein Amt im Ostsektor weiter ausübte.

1933 war die „Polizeibereitschaft z.b.V.“ unter dem Polizeimajor Walther Wecke dort untergebracht und bald als Folterstätte bekannt. Wecke war als Freikorpskämpfer 1922 im Zusammenhang mit der Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau verhaftet worden und mit Albert Leo Schlageter Mitbegründer der Berliner NSDAP. Seine Einheit hatte ihre Wurzel in der am 22. Februar 1933 von Hermann Göring aus Teilen der SA, der SS und des Stahlhelms ernannten Hilfspolizei. Aus ihr schälte sich über die im März aufgestellte „SS Stabswache“, die spätere „Leibstandarte Adolf Hitler“ heraus. Ab März 1933 begannen systematische Razzien der Wecke-Einheit.

Im Columbia-Haus waren im Sommer und im Herbst außer der Gruppe Wecke vor allem SS-Männer des „SS-Abschnitts III Berlin-Brandenburg“ eingesetzt. SS-Oberführer Max Henze hatte die Oberaufsicht, Kom- mandant war SS-Truppführer Othmar Toifl, 35 Jahre alt. Was sich unter diesem Verwalter einer Hölle abspielte, lässt sich bei Kurt Hiller nachlesen, der im Juli 1933 als „Schutzhäftling 231“ ins Columbia-Haus verbracht wurde. „Wir müssen uns in einem engen, halbdunklen Gang nebeneinander aufstellen, alles, was wir bei uns haben, vor uns niederlegen… Vor jeden von uns tritt ein SS-Kerl, dicht, fast Nase an Nase… Sein Nachbar, grinsend, wünscht mit ihm zu tauschen… und schon habe ich vier, fünf Fausthiebe im Gesicht… daß mir schummrig wird und das Blut in vollem Strome aus der Nase schießt. Dann jagt man mich mit Tritten in eine Zelle. Ich falle blutbesudelt auf den Strohsack.“ Eine weitere Folterung beschreibt Hiller: „Ein geräumiges Zimmer. Seine Wände sind mit Peitschen und Geißeln drapiert; die Mitte nimmt ein großer viereckiger blankgescheuerter Tisch ein; rings um ihn, teils sitzend, teils stehend, etwa zwanzig SS-Leute, einer mit nacktem Oberkörper… Ich muß mich über den Tisch legen; vier Kerle pressen mir die Hände an die Kanten und halten meine Füße fest. Hinter mich tritt der Entblößte mit riesiger Peitsche. Fünfundzwanzig Hiebe. Nach dem fünften, sechsten glaube ich, das ist nicht mehr überlebbar, und beginne zu schreien. Das stachelt sie; höhnische Zurufe… Nach dem fünfundzwanzigsten tritt eine Pause ein. Ich falle hin, man reißt mich auf. Man befiehlt mir Hose und Unterhose herunterzulassen, und ich muß mit dem Bauch abermals auf den Tisch… Nach der Exekution bin ich nicht viel lebendiger als eine Leiche. Ich wanke zum Waschraum, vielmehr werde gewankt. Man steckt mir den Kopf unter einen dicken Strahl Wassers: als Peinigung gedacht, als Wohltat empfunden. Man treibt mich im Laufschritt zur Zelle; ein ungeheurer Fußtritt befördert mich hinein. Ich fliege an die der Tür gegenüberliegende Steinwand; auf der Stirn klafft eine Wunde.“

In dem Buch „Columbia-Haus“ von Kurt Schilde und Johannes Tuchel gibt es zahlreiche Schilderungen von gequälten Häftlingen. „Im Berliner KL Columbia-Haus wurden wohl die schlimmsten Greueltaten verübt, die sich menschliche Einbildung vorstellen kann“, schreibt auch Eugen Kogon in seinem Buch „Der SS-Staat“. Viele spätere KZ-Kommandanten haben im Columbia-Haus „gelernt“. So Walter Gerlach (KZ Sachsenhausen), Karl Koch (KZ Buchenwald und Lublin-Majdanek), Richard Baer, Arthur Liebehenschel, (KZ Auschwitz), Max Koegel (Frauen-KZ Ravensbrück) und Albert Sauer (KZ Riga-Kaiserwald). Das KZ Columbia-Haus war eine Schule der Gewalt. 400 Häftlinge wurden im September 1933 in den 156 überfüllten Zellen gemartert.

Einer von ihnen war Emil Winkler. In einer Bescheinigung des Berliner Kommandos der Schutzpolizei vom 2. August 1945 wird überliefert, dass Emil Winkler im schwer verletzten Zustand in das Lager Oranienburg überwiesen wurde. An den erlittenen Verletzungen sei er kurz nach Einlieferung im Staatskrankenhaus in der Scharnhorststraße 13 verstorben. Von den wenigen Archivbelegen ist mir ein in seiner Nüchternheit erschütterndes Blatt in die Hand gefallen. Die Berliner Charité gab mir einen Auszug aus dem Leichen-Archivbuch 1933. In der Spalte 1720 ist in deutscher Schreibschrift festgehalten:

Name: Winkler

Vorname: Emil

Beruf: Verbandssekretär

Geburtstag Ort: 7.5.82 Peilau

Todestag, Sterbeort, Todesursache: 17./9. Staatskrkhs. u. Kurfürstenstraße 163 gewohnt. Hautblutungen, Herz u. Lungenveränderungen.

Angehörige (Bestattungspflichtiger) Art der Bestattung ggfs. Friedhof: Frl. Frieda Reimann

Ausg./Eingang des Leichnams. 25./9. 17./9.

Eine ordentliche bürokratische Erledigung. Davon konnte 1933 im Columbia-Haus nicht die Rede sein. Noch konnte sich die Mord- und Folterlust der SS-Banden ohne Regeln deutscher Gründlichkeit austoben. In seiner doppelten Funktion als Gefängnis der Gestapo und als KZ nahm dieses Lager bis 1936 über 8000 Häftlinge auf, von denen Schilde und Tuchel nur 450 namentlich identifizieren konnten. Mir fiel beim Durchwühlen der Akten im Geheimen Staatsarchiv ein Erlass in die Hand, in dem angeordnet wurde, dass ab 1. Februar 1934 von den Lagern wöchentliche Rapporte zu erstatten seien. Erst damit wurde die Menschenverachtung auch statistisch geordnet.

Unter den von Schilde und Tuchel ermittelten Häftlingen des Columbia-Hauses befanden sich: Friedrich Ebert, Sohn des ersten Reichspräsidenten, der Kabarettist Werner Finck, der Schauspieler Walter Gross, Erich Honecker, Dr. jur. Robert M.W. Kempner, der Schauspieler Günther Lüders, Franz Neumann, der später die Zwangsvereinigung von KPD und SPD in den Westsektoren Berlins verhindern konnte, der Deutsche Meister im Ringen, Werner Seelenbinder, und Ernst Thälmann.

Am 5. November 1936 wurde die Folterstätte geschlossen: Etwa im März 1938 wurde das Gebäude abgerissen, weil Hermann Göring den Platz für die Erweiterung des Flughafens Tempelhof brauchte. Welche Verbrechen, systematisch und chaotisch zugleich, verübt worden sind, ist juristisch niemals methodisch ermittelt worden. Auch die Berliner Justiz hat, dem Zeitgeist angemessen, das KZ Columbia vergessen.

Am 10. November 1933 fragte allerdings ein Kriminal- Assistent A. Grauer vom Geheimen Staatspolizeiamt, Berlin SW 11, Prinz-Albrecht-Straße 8, beim Konzentrationslager Oranienburg an, ob der Verbands- sekretär Emil Winkler im Lager oder im Krankenhaus verstorben sei und ob wegen der Todesursache ein Verfahren der Staatsanwaltschaft schwebe. Von einer der Dringlichkeit wegen baldmöglichsten Antwort ist in den Archiven nichts zu finden. Eines der letzten Schreiben zu Lebzeiten von Emil Winkler dürfte vom Leiter des Konzentrationslagers Oranienburg, Sturmbannführer Werner Schäfer, an den Vorsteher des 107. Polizei-Reviers, Berlin SO 36, Waldemarstraße 55, sein, mit dem er den Reisepass und den Waffenschein Winklers zur Aufbewahrung übersendet.

Lennart Westberg aus Sundsvall in Schweden stieß bei Recherchen zur regionalen Polizeigeschichte darauf, dass Emil Winkler 1932 an einer Tagung teilgenommen und viel Respekt genossen hatte. Im Vereinsblatt des Bundes Schwedischer Polizeibeamter erschien am 15. Oktober 1933 eine kurze Mitteilung über Winklers „plötzlichen und mysteriösen“ Tod. Ein halbes Jahr später, am 15. Mai 1934 veröffentlichte „Svensk Polistidning" eine deutliche Darstellung der Todesumstände. In dem Artikel heißt es: „Wenn die Gewalt das Recht ablöst, bedeutet ein Leben für die Machthaber nichts. Für jeden gesund Denkenden nähert sich der alte, hoch geschätzte Kulturstaat Deutschland in Europa mit großen Schritten dem Niveau der primitiven Barbaren in der Welt.“

51 Jahre alt war Emil Winkler, als sein Leben blindlings ausgelöscht wurde. Seine Lebensgefährtin Frieda Reimann durfte seinen Leichnam bestatten. Die Gestapo war aber mit ihr noch nicht fertig. Sie schlug sich in der Gastronomie als Küchen-Ansagerin und als Kassiererin durch. Immer wieder holte die Gestapo sie zu Vernehmungen. Fünf Mal wurde sie in Haft genommen, bis die Diktatur von außen überwunden wurde.

Im August 1945 stellt Frau Reimann erstmals einen Antrag auf Anerkennung als Opfer des Faschismus. Mit Bescheid des Senators für Arbeit und Sozialwesen wird dieser Antrag am 20. November 1954 abgelehnt, weil „nicht festgestellt werden (konnte), daß der Verstorbene sich am planvollen Widerstandskampf gegen den Nationalsozialismus im Sinne des Gesetzes beteiligt hat“.

Bei der Sichtung endloser, vergilbender Aktenstöße in zahlreichen Archiven auf der Suche nach Lebensspuren des Vorgängers trifft den Suchenden unvermittelt ein Faustschlag in die Magengrube: Emil Winkler ist am 1. April 1933 in die NSDAP eingetreten. Mitgliedsnummer 1 773 648. Ratlosigkeit, die sich durch nichts auflösen lässt. Aber wer von uns, die die Herrschaft der Willkür bewusst erlebt haben, oder der in die Zeit danach hineingeboren worden ist, hätte das Recht, den ersten Stein zu werfen?

Der Publizist Kurt Schilde bezeichnet 1987 als erster in seinem Buch „Vom Columbia-Haus zum Schulenburgring“ die Errichtung eines Mahnmals an der Stelle, wo sich das Gebäude bis 1936 befand, als „längst überfällig“. Im Bezirksamt Tempelhof wird der Gedanke aufgegriffen. Der Bildhauer Georg Seibert errichtet als Preisträger eines Wettbewerbs ein Haus aus Stahl mit abstrahierter Zellenstruktur – Außenwand, Trennwand, Dach. Eine freistehende Giebelwand erinnert mit einer Inschrift an das KZ: „Hier wurden Menschen gefangengehalten – entwürdigt – gefoltert – gemordet“. Am 3. Dezember 1994 wird das Mahnmal eingeweiht. Es war nicht gelungen, es an die ursprüngliche Stelle des ehemaligen Arrest-Gebäudes zu setzen. Das 1994 noch unter Hoheit der amerikanischen Schutzmacht stehende Gelände des Flughafens Tempelhof bot keinen Platz dafür. Jetzt steht das Mahnmal auf der anderen Seite des stark befahrenen Columbiadamms. Unwissend vorbeieilende Verkehrsteilnehmer mögen es als verlassene Bus-Haltestelle wahrnehmen.

Der Autor, Jahrgang 1924, war von 1969 bis 1987 Polizeipräsident von Berlin.

Klaus Hübner

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