zum Hauptinhalt
im Roten Rathaus tagt der Senat - wäre Berlin kein Land mehr hieße es "Stadtrat".

© imago

Länderstatus der Hauptstadt: "Das Bundesland Berlin ist eine Fehlkonstruktion"

Die Fusion Berlins mit dem Bundesland Brandenburg scheiterte 1996. Die Lehre daraus: Berlin sollte den Länderstatus aufgeben, denn die Hauptstadtfunktion ist wichtiger – ein neuer Plan.

Mehr als zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung ist Berlin als deutsche  Hauptstadt allseits akzeptiert. Die Leidenschaft, mit der 1991 im Deutschen Bundestag quer durch die Parteien darüber gestritten wurde, ob Regierung und Parlament in Bonn bleiben oder nach Berlin umziehen sollten, wirkt heute seltsam fern. Bonn, das damals nur knapp unterlag und für den Verlust der Hauptstadtrolle politisch und finanziell großzügig entschädigt wurde, hat sich als „Bundesstadt“, als Sitz wichtiger internationaler Organisationen und großer ehemaliger Bundesunternehmen wie der Post und der Telekom hervorragend entwickelt. Dass alle Bundesministerien immer noch einen Sitz in Bonn haben, dass fast die Hälfte der Bundesbeamten nach wie vor am Rhein arbeitet, ist der Öffentlichkeit kaum mehr bewusst – ein etwas kostspieliges historisches Kuriosum.

Nicht nur die politischen Parteien sind sich einig, dass Berlin die richtige  Hauptstadt  ist. Auch die Bundesländer haben Berlin akzeptiert. Die Hauptstadt-Reden der Ministerpräsidenten, die in den vergangenen Jahren von der Stiftung Zukunft Berlin veranstaltet wurden, haben das eindrucksvoll bestätigt. Nicht einer der Länderchefs hat Vorbehalte geäußert. Für Berlin ist das eine ganz neue Erfahrung. Eine so einhellige Zustimmung aus allen Teilen Deutschlands hat die Stadt in ihrer Geschichte nicht gekannt.

Berlin ist nicht die „geborene“ Hauptstadt der Deutschen. Verglichen mit London, Paris oder Madrid ist die einstige Residenzstadt der brandenburgischen Kurfürsten erst spät zu nationalen Hauptstadtwürden gelangt. Während es in England, Frankreich oder Spanien seit Jahrhunderten Hauptstädte gab, die unbestrittene Zentren ihrer Länder waren, hatten die  Deutschen keine Hauptstadt, weil sie keinen Nationalstaat hatten. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das tausend Jahre lang ihren Geschicken den Rahmen gab, war ein übernationales Gebilde ohne feste Hauptstadt gewesen. Als es sich 1806 lautlos aus der Geschichte verabschiedete, gab es auf deutschem Boden einige große und sehr viele kleine Staaten. Ein deutscher Nationalstaat war noch nicht einmal von ferne abzusehen, eine deutsche Hauptstadt noch weniger.

Berlin nur fünfundsechzig Jahre später, im Jahre 1871, zur Hauptstadt des eben gegründeten Deutschen Reiches wurde, war nicht die Verwirklichung eines alten nationalen Traumes der Deutschen,  sondern das  Werk des  preußischen Obrigkeitsstaats.  Weder die  demokratisch gesinnte Jugend auf dem Hambacher Fest von 1832 noch die Verfassungsversammlung in der Frankfurter Paulskirche von 1848 hatte Berlin im Blick. Berlin wurde zur Hauptstadt des Deutschen Reiches, weil es die Hauptstadt Preußens war.

Preußens Militär hatte mit einem Sieg über Österreich 1866 die „kleindeutsche Lösung“ erzwungen (also ein Deutschland ohne Österreich) und mit einem Sieg über Frankreich 1871 seinen Führungsanspruch in Deutschland durchgesetzt. Die Kaiser- würde sicherte sich Preußen mit dem Scheckbuch: es überwies den bayerischen Wittelsbachern für ihren Verzicht auf die Kaiserkrone eine hübsche Summe. 

Preußen war nicht Deutschland. Nicht einmal alle Untertanen der Hohenzollern waren überzeugte Preußen: die Hannoveraner nicht, deren Königshaus die Preußen vertrieben hatten, die katholischen Rheinländer nicht, die in dem protestantischen Preußen lange unterdrückt worden waren und immer fremd blieben. Für die Sachsen, die Pfälzer, die Badener, zumal für die Bayern war Berlin die Hauptstadt Preußens - und allenfalls in zweiter Linie auch die Hauptstadt Deutschlands. Die überragende Popularität Otto von Bismarcks, später die nationale Begeisterung für den Ersten Weltkrieg hat diese Distanz zu Berlin überdeckt, aber nicht beseitigt. 

In den Jahren der Weimarer Republik war Berlin zum ersten Mal eine Metropole von Weltrang: Hochburg von Wissenschaft und Forschung, vibrierendes Zentrum von Kunst, Theater und Film, Hauptstadt der Zeitungen und Verlage, Laboratorium der Moderne, elegant, nervös und frivol. Aber genau diese Eigenschaften machten Berlin den konservativen Eliten Deutschlands verdächtig. Die Stadt war fest in der Hand der Sozialdemokraten, zudem hatten die jüdischen Eliten einen enormen Einfluss auf Wirtschaft und Wissenschaft, Kunst und Medien. Von außen gesehen war die Hauptstadt links und jüdisch – und deshalb doppelt ungeliebt.

Der bayerische Dichter Ludwig Thoma hat diese Abneigung 1920 in drastischer Derbheit formuliert: „Berlin ist nicht deutsch, ist heute das Gegenteil davon, ist galizisch verhunzt und versaut. Und jeder brave Mann in Preußen weiß heute, wo er den Grundstock eines ehrlichen Deutschtums zu suchen hat – in Bayern. Daran macht sie uns kein Jud‘ irre.“

Das Berlin der Weimarer Zeit wurde  geliebt oder gehasst, verklärt oder verflucht. Als gemeinsame Hauptstadt der Deutschen wurde es nicht akzeptiert.

Dass die Stadt den Nationalsozialisten länger widerstanden hat als alle anderen  Großstädte, hat ihr nichts genutzt. Am Ende wurde sie doch zur Hauptstadt des Dritten Reiches. Unter den Spitzenfunktionären des Nazi-Regimes war kein einziger Berliner. Aber Adolf Hitler und Joseph Goebbels, Hermann Göring und Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich und Adolf Eichmann, Albert Speer und Martin Bormann hatten jetzt die Macht in Berlin.

Berlin wurde zum Zentrum von Willkürherrschaft und Terror. Es gab in der Stadt fast 3000 Lager, in denen gefoltert und gemordet wurde. In Berlin wurde das Menschheitsverbrechen des Holocaust organisiert, von  Berlin ging der Zweite Weltkrieg aus, der 60 Millionen Tote forderte. Während Albert Speer für den „Führer“ Pläne entwarf, die aus Berlin die „Welthauptstadt Germania“ machen sollten, musste sich die ganze Welt verbünden, um Hitler-Deutschland militärisch in die Knie zu zwingen.

Berlin war allerdings auch das Zentrum des Widerstands gegen Hitler, nicht nur des militärischen. In keiner Stadt gab es so viele „unbesungene Helden“, Menschen, die ihr eigenes Leben riskierten, um jüdisches Leben zu retten.

Als russische Soldaten im April 1945  die Sowjetfahne auf der Kuppel des Reichstags hissten, lag Berlin in Schutt und Asche. Die vier Siegermächte teilten die Stadt unter sich auf. Aus dem sowjetischen Sektor wurde bald die Hauptstadt der DDR, aus den drei Westsektoren Westberlin, aus Besatzungsmächten auf beiden Seiten Alliierte. Die Westmächte sicherten das Überleben Westberlins militärisch und politisch, die Sowjetunion machte den Ostteil der Stadt zur Hauptstadt ihres deutschen Satellitenstaates. Das geteilte Berlin stand für den  Freiheitswillen der Deutschen. Im Westen Ernst Reuters leidenschaftlicher Appell an die freie Welt („Schaut auf diese Stadt …“),  im Osten der Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 – das sind stolze Momente dieser Freiheitsgeschichte.

Berlin wurde zur Frontstadt des Kalten Krieges. Für Jahrzehnte war es der  gefährlichste Ort der Welt. Hier standen sich die beiden nuklear gerüsteten Weltmächte auf Sichtweite gegenüber. Jeder Fehler auf einer der beiden Seiten konnte zur nuklearen Katastrophe führen. Dass es dazu nicht gekommen ist, dass das Sowjetimperium 1990 unter dem Druck der demokratischen Revolutionen in Osteuropa zusammenbrach, dass die Mauer fiel, die Berlin so lange lang geteilt hatte, dass Deutschland friedlich und mit Zustimmung aller seiner Nachbarn wieder vereinigt werden konnte – das alles erscheint im Rückblick immer noch wie ein Wunder.

Damals, in dem Schicksalsjahr 1990, bekräftigte das wiedervereinigte Deutschland zwei Grundentscheidungen, die schon die Bonner Republik von Anfang an bestimmt hatten und die nun Deutschlands Politik für alle Zeit binden sollten. Außenpolitisch: die Bindung an den Westen. Zum ersten Mal in der Geschichte fand das ganze Deutschland seinen Platz im Kreis der westlichen Demokratien. Innenpolitisch: der Föderalismus. Das wiedervereinigte Deutschland sollte eine Bundesrepublik sein. Nach zwei Diktaturen wollten die Deutschen nie wieder einen  Zentralstaat haben. Westbindung und Föderalismus bilden seither den Grundkonsens des demokratischen Deutschland.

Dass Berlin die Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschland sein würde, erschien Vielen als selbstverständlich. Sie irrten. Bis Regierung, Bundestag und Bundesrat wirklich nach Berlin umzogen, mussten noch heftige politische Konflikte ausgetragen werden. Erst seit 1999 liegt das Machtzentrum der deutschen Politik wieder an der Spree. Geographisch ist die Hauptstadtfrage damit endgültig beantwortet.                                                                                                                                                                                                                                                                         

Aber inhaltlich ist sie nicht erledigt. Im Gegenteil: wir beginnen erst, sie richtig zu stellen. Sie lautet: was ist die Rolle und die Aufgabe der Hauptstadt in einem föderalen Staat? Ist sie darauf beschränkt, Sitz von Bundesregierung und Parlament zu sein? Braucht ein Land, das aus Überzeugung föderal verfasst ist, eine Metropole als Hauptstadt? Falls es sie braucht - was ist die besondere Leistung, die diese Metropole für das Land erbringen muss? Und welchen verfassungsrechtlichen Status sollte die Hauptstadt im föderalen Gefüge haben?

Das ist die neue Hauptstadtfrage. Bisher wurde sie nie ernsthaft erörtert. Offenbar war die Zeit dafür noch nicht reif. Im wiedervereinten Deutschland mussten zuerst unendlich viele praktische Aufgaben erledigt werden. Dann gab es zwei hochrangig besetzte Föderalismuskommissionen. Sie handelten von den Beziehungen zwischen Bund und Ländern, von Zuständigkeiten und Finanzen. Die Rolle der Hauptstadt in einem föderalen Staat haben sie entweder nicht für wichtig gehalten oder als Problem noch  nicht erkannt. Mehr als zwanzig Jahre nach der Vereinigung ist es an der Zeit, über die Architektur unseres föderalen Systems neu und grundsätzlich nachzudenken.

Warum Berlin arm ist - und warum das nicht so bleiben wird

Berlin war einmal eine reiche Stadt, für ein paar Jahrzehnte die reichste in Deutschland. Der Reichtum war spät gekommen. Preußens Aufstieg zur europäischen Großmacht und Berlins Aufstieg zur Hauptstadt des Deutschen Reiches hatten ihn ermöglicht. In den Jahrzehnten nach der Reichsgründung 1871 war Berlin zusammen mit den (damals noch nicht eingemeindeten) Nachbarstädten wie Charlottenburg oder Schöneberg eine einzige Großbaustelle. Borsig und Siemens, AEG und Telefunken, Osram und Schering machten Berlin zur größten Industriestadt Europas, die  Berliner Maßkonfektion und die hochmodernen Kaufhäuser der Wertheims und Tietzens zum elegantesten Handelsplatz, die großen Banken und Versicherungen zum führenden Finanzzentrum in Deutschland. Berlin war wirklich reich.

Heute preist der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit seine Stadt als „arm, aber sexy“. Ob man sie sexy finden will, ist eine Frage des Geschmacks. Dass sie arm ist, lässt sich nicht bestreiten. Zu dieser Armut hat zwar die Verschuldungspolitik   des Berliner Senats in den Jahren nach der Wiedervereinigung beigetragen. Aber im Kern ist sie die Folge des gleichen Umstands, der Berlin einst den Reichtum beschert hatte: nämlich  dass es Deutschlands Hauptstadt war.

Der Hauptstadtrolle verdankte Berlin seinen phänomenalen Aufstieg im späten       19. Jahrhundert. Weil Berlin aber später die Hauptstadt des Nazi-Reiches, dann der Ausgangspunkt des Zweiten Weltkriegs und schließlich für Jahrzehnte geteilt war, ist es heute die Hauptstadt der Sozialhilfeempfänger, der Obdachlosen und der Kinderarmut.

Als der Krieg zu Ende war, lagen Deutschlands Städte in Schutt und Asche. Da ging es Berlin nicht anders als Hamburg oder Köln, Frankfurt oder München. Aber Berlin hatte mehr verloren als die anderen Städte.

Verloren war die wirtschaftliche Basis. Die großen Industriekonzerne gingen nach dem Zweiten Weltkrieg in den Westen. Sie wollten vor den Russen sicher sein. Die USA versprachen ihnen Hilfen aus dem Marshall-Plan, wenn sie in Berlin blieben. Sie gingen trotzdem. Westberlin verlor seine Industrie und mit ihr Hunderttausende von Arbeitsplätzen. Desgleichen gingen die Banken. Alle großen Banken ließen sich in Frankfurt nieder. Am Ende ging auch die Forschung. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, einst das strahlende Zentrum der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung in Deutschland, wurde unter dem Namen Max-Plank-Gesellschaft in München neu begründet. Der Siemenskonzern eröffnete seine beiden neuen Zentren in Erlangen und München. Dass aus dem Agrarland Bayern binnen weniger Jahrzehnte eine Hochburg von Wissenschaft und Forschung geworden ist, hängt auch mit diesen Neugründungen aus Berliner Erbmasse zusammen.

Dem Weggang der Firmen, der Banken und der Forschung folgte der personelle Aderlass. Früher waren die Begabten aus der Provinz in die Hauptstadt geströmt, um hier ihr Glück zu machen. Jetzt gingen umgekehrt die Begabten aus Berlin „in den Westen“, weil die eingeschlossene  Halbstadt  ihnen keine Karrierechancen bot. Die Zurückgebliebenen hatten Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Um einen Ausgleich zu schaffen, wurde der Öffentliche Dienst aufgebläht. Diese  teilungsbedingte Fehlentwicklung ist inzwischen durch rabiate Schrumpfkuren korrigiert worden. Heute ist der Öffentliche Dienst Berlins überaltert, unterbesetzt und im Vergleich mit anderen Bundesländern unterbezahlt.

Von den großen Industriekonzernen ist nach der Wiedervereinigung keiner nach Berlin zurückgekehrt. Auch die Banken kamen nicht zurück. Berlin wird nie wieder ein klassischer Industriestandort und auch nicht Deutschlands wichtigster Finanzplatz sein.

Verloren war zweitens die jüdische Elite. Im alten Berlin hatten jüdische Unternehmer eine überragende Rolle gespielt. Die Privatbanken, die Textilindustrie, die großen Warenhäuser waren vornehmlich in jüdischer Hand. Berlins Wirtschaft ohne Juden - das ist auch  als materieller Verlust gar  nicht zu  beziffern. Noch mehr gilt das für die jüdische Elite in Kultur und Wissenschaft. Bis  die Nazis  an die  Macht kamen, war in den Theatern, den Opernhäusern und Orchestern, der jungen Filmindustrie oder in der vitalen  Kunstszene der Hauptstadt eine überdurchschnittliche Zahl von jüdischen Musikern, Schauspielern, Regisseuren, Schriftstellern und Galeristen aktiv. An den Universitäten und in den Forschungsinstituten arbeiteten jüdische Gelehrte. Die Mehrzahl der in Berlin lebenden Nobelpreisträger waren Juden. Sie alle mussten fliehen oder wurden ermordet. Keiner dieser Verluste war je wieder gut zu machen.

Verloren war schließlich Preußen. Was das Ende Preußens für Berlin bedeutet, ist sonderbarerweise bis heute kaum ins öffentliche Bewusstsein gelangt. Preußen war groß: es reichte einst von Königsberg bis Trier und von Flensburg bis Breslau - das waren zwei Drittel der Fläche des Deutschen Reiches. Preußen war wohlhabend: die Zechen an Rhein und Ruhr gehörten dazu ebenso wie die Bergwerke Oberschlesiens, die Industrie Berlins und die Kornkammern des Ostens. Da floss viel Steuergeld in die Hauptstadt.

Für Berlin war Preußen, was Bayern für München war und Sachsen für Dresden: der große Zahlmeister. Die bedeutendsten kulturellen Einrichtungen Berlins wurden nicht von der Stadt Berlin, sondern von Preußen finanziert - bis 1918 vom Königreich, danach vom Freistaat: Staatsoper und Staatstheater, Universität und Staatsbibliothek, Museen und Forschungseinrichtungen. Der Stadtkämmerer von Berlin musste für alle diese Institute keinen Pfennig ausgeben. Preußen zahlte für die Hauptstadt, sowie Sachsen für Dresden zahlte und Bayern für München.

Ein wichtiger Teil des preußischen Erbes, nämlich die Berliner Museen und die Staatsbibliothek, gehört heute zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Sie wird überwiegend vom Bund finanziert. Aber die Universitäten , die Staatsoper Unter den Linden  und die  ehemaligen  Staatstheater fallen  jetzt  der  Stadt  zur Last, die  dafür                                                            

vorher nie zuständig gewesen war. München lässt sich seine Opernhäuser, seine Museen und seine Universitäten bis heute vom Freistaat Bayern bezahlen, Dresden vom Freistaat Sachsen. Für Berlin steht kein Preußen mehr ein.

Zu diesen drei historischen Verlusten kamen Folgekosten der deutschen Teilung, die in dieser Form keine andere deutsche Stadt zu verkraften hatte. In Ostberlin gab es bis zum Fall der Mauer eine starke Maschinenbau- und Elektroindustrie. Sie überlebte das Ende der DDR nicht, weil ihre Betriebe technisch veraltet und auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig waren und weil die angestammten Exportmärkte in den Ländern Osteuropas fast über Nacht wegbrachen. Die Folge war wiederum hohe Arbeitslosigkeit, verstärkt noch durch Zehntausende, die in den DDR-Behörden beschäftigt waren und nun keinen Arbeitsplatz mehr hatten. 

Zwei Halbstädte mussten integriert werden, die über Jahrzehnte nicht nur durch eine Mauer samt Todesstreifen getrennt gewesen waren, sondern auch verschiedenen politischen Systemen  angehörten. Verwaltung  und  Polizei, Öffentlicher  Nahverkehr und Krankenversorgung, Kommunikationssysteme und Schulwesen,  Wasserbetriebe und  Abfallbeseitigung – die gesamte Infrastruktur der größten deutschen Stadt  musste zusammengeführt, modernisiert und in vielen Teilen vollkommen erneuert werden. Eine ungeheure Kraftanstrengung.

Man hätte denken können, dass diese teilungsbedingten Sonderbelastungen Berlins durch energische Hilfen des Bundes erleichtert worden wären. Das Gegenteil war der Fall. In den Zeiten der Teilung hatte die Bonner Regierung Westberlin, das aus eigener Kraft nicht lebensfähig war, als „Schaufenster des Westens“ großzügig subventioniert. Auf der anderen Seite der Mauer hatte das SED-Regime die „Hauptstadt der DDR“ zulasten des übrigen Landes üppig ausgestattet. Beide Subventionen entfielen mit der Wiedervereinigung praktisch über Nacht - genau zu dem Zeitpunkt, als Berlin gesamtstaatliche Hilfe am nötigsten gebraucht hätte.

Verlust der wirtschaftlichen Basis, Verlust der jüdischen Elite, Verlust des Geldgebers Preußen, nach dem Krieg die Kosten der Teilung, nach dem Ende der Teilung die Kosten der Wiedervereinigung bei drastischer Reduktion der Bundessubventionen: das sind die fünf Gründe der strukturellen Armut Berlins. Sie sind allesamt Folgen der Tatsache, dass Berlin deutsche Hauptstadt war. Mit Berliner Kommunalpolitik haben sie nichts zu tun.

Den meisten Deutschen sind diese Zusammenhänge nicht bewusst. Selbst das Bundesverfassungsgericht nahm von ihnen keine Notiz, als es im Jahre 2006 urteilte, dass Berlin sich nicht in einem Finanznotstand befinde. Die hohen Richter machten es sich einfach: sie verglichen Berlin mit Hamburg, Stadtstaat mit Stadtstaat. Hamburg hatte eine Universität – sollte das nicht auch für Berlin genug sein? Dass die deutsche Hauptstadt andere Ansprüche erfüllen muss als Hamburg, wollten die Verfassungsrichter nicht sehen. Für die historischen Gründe von Berlins Armut haben sie sich nicht interessiert.

Die Folgen dieser Armut sind bis heute zu besichtigen. Kein anderes Bundesland erzielt einen so geringen Anteil seiner Einnahmen aus eigener Wirtschaftskraft. In keinem anderen Bundesland beansprucht der Sozialetat einen so großen Anteil des Haushalts. Überfällige Investitionen in die Infrastruktur und in den Gebäudebestand werden seit Jahren aufgeschoben. „Das gesamte Berlin lebt längst von seiner Substanz“, urteilt der Tagesspiegel. Und außerdem ist die Stadt extrem verschuldet – mit mehr als 60 Milliarden Euro.

Berlin war einmal eine reiche Stadt. Es ist arm geworden, weil es als Hauptstadt an der deutschen Geschichte stärker beteiligt war und für ihre Folgen teurer bezahlen musste als andere Städte. Das ist die historische Wahrheit. Weil sie kaum bekannt ist, muss man sie in Erinnerung rufen. Aber eine ewige Opferrolle mit Anspruch auf dauerhafte Alimentierung durch andere folgt daraus nicht.

 Die Veränderung ist längst in Gang. Seit sechs Jahren wächst die Wirtschaft in Berlin  schneller als im Bundesdurchschnitt. Die Arbeitslosigkeit ist zwar immer noch die höchste in Deutschland, sinkt aber  schneller als in den meisten anderen Bundesländern. 2012 musste Berlin keine Schulden machen. Gemessen an der Wirtschaftsleistung je Einwohner erreichte die Stadt erstmals Bundesniveau. Reich ist Berlin damit noch lange nicht. Aber es kokettiert nicht länger mit seiner Armut. Es will ihr entkommen. Es will sich behaupten im Wettbewerb.

Die traditionellen Industrien, die Berlin einst groß gemacht haben (Maschinenbau, Elektrotechnik, Chemie), spielen in dem neuen Berliner Wachstum nicht mehr die führende Rolle. Wichtig sind sie dennoch. Siemens, an dessen Berliner Standorten 13.500 Mitarbeiter beschäftigt sind, ist immer noch der größte industrielle Arbeitgeber Berlins. In Berlin baut Siemens Gasturbinen und Schaltanlagen für die Energienetze der Zukunft. BMW produziert Motorräder in Spandau, Mercedes hochmoderne Motoren in Marienfelde.

Mit Ausnahme der genannten drei „Großen“ wird die Berliner Industrie heute von mittelständischen Firmen getragen. Nur zehn Prozent der Berliner Beschäftigten arbeiten überhaupt noch in den traditionellen Industrien - der Bundesdurchschnitt des sogenannten „Industriebesatzes“ liegt über zwanzig Prozent. Allerdings ist der Ausdruck „traditionelle Industrien“ irreführend. Die Berliner Industrie ist längst nicht mehr wie in den Jahrzehnten der Teilung die „verlängerte Werkbank“ der west-deutschen Wirtschaft, sondern hochmodern, forschungsnah und exportorientiert. Elektromobilität, neue Energietechniken, Urban Technologies – solche Stichworte kennzeichnen die Berliner Industrie. Die Grenzen zur sogenannten Kreativwirtschaft mit ihren fünf vom Senat gezielt geförderten „Clustern“ Gesundheitswirtschaft, Energietechnik, Verkehr  und Optik sind fließend.

Besonders schnell wächst die digitale Wirtschaft. Das Internet trägt zum Gesamtumsatz der Berliner Wirtschaft inzwischen fast so viel bei wie der Tourismus. Die digitale Wirtschaft profitiert von einer vitalen Gründerszene. In Berlin tummeln sich hunderte von Gründerfirmen, die meisten im Bereich von Informations- und Kommunikationstechnologie. Internationale Belegschaft, hohe Innovationsfähigkeit, Schnelligkeit und Risikobereitschaft zeichnen diese Start-Up-Firmen aus. Sie profitieren von der engen Verbindung mit einer vielfältigen Forschungslandschaft, die interdisziplinär und marktorientiert arbeitet. In Berlin gibt es vier Universitäten, zehn Fachhochschulen sowie mehr als 40 außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, darunter allein 21 Leibniz-Institute. In keiner anderen europäischen Region steht so viel Forschungskapazität auf so engem Raum zur Verfügung.

Inzwischen gehört Berlin zusammen mit Silicon Valley, London und New York international zu den führenden Gründungszentren. Die Stadt zieht Spitzenleute aus aller Welt an. Ihnen folgen allmählich auch weltweit aktive Risikokapitalgeber. Bill Gates steckt einen Teil seines Privatvermögens in eine Berliner Internet-Plattform, auf der sich  Wissenschaftler   international  vernetzen  und  ihre   Forschungsergebnisse austauschen können. Ein anderes Start-Up, das Managementsysteme für die Auslagerung von IT-Infrastruktur ins Internet („Cloud-Computing“) entwickelt, hat unlängst bei Risikokapitalgebern 20 Millionen Dollar eingesammelt. Microsoft richtet in seiner neuen Berlin-Repräsentanz ein eigenes Start-Up-Center ein. Google und Shell,  EADS und Deutsche Bank suchen in Berlin nach Talenten mit zukunftsfähigen Geschäftsideen. Allein SAP fördert fast 500 junge Firmen, 1000 sollen es werden. Nach Berlin strömt zehnmal mehr Wagniskapital als nach Hamburg. München ist weit abgeschlagen.

Ein typisches Beispiel für Berlins „neue Wirtschaft“ ist der „Wissenschafts- und Technologiepark Adlershof“ im äußersten Südosten der Stadt: sechs Institute der Humboldt-Universität, elf außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, fast eintausend  Unternehmen, darunter viele Start-Ups, 15.000  Beschäftigte, fast zwei Milliarden € Jahresumsatz. Das Ganze wird getragen von einer Betriebsgesellschaft des Landes Berlin. Dem Erfolgsmodell Adlershof sollen ähnliche Technologieparks in Tegel, Tempelhof und Buch folgen. Ihr gemeinsames Ziel ist die Entwicklung marktfähiger Zukunftstechnologien.

Der Tourismus boomt. Die Zahl der registrierten Übernachtungen wächst jedes Jahr zweistellig, im Jahre 2012 wurden 25 Millionen Übernachtungen registriert. Die großen Berliner Messen  sind  überfüllt,  die  internationalen  Kongresse  ausgebucht. Von  den  rund  16  Millionen  Städtereisen  innerhalb  Deutschlands  im  Jahre  2012 führten 11 Millionen nach Berlin – das ist gut zwei Drittel oder doppelt so viel wie die Städtereisen in alle anderen deutschen Großstädte zusammen.

Noch schneller wächst der Anteil der internationalen Gäste – im vergangenen Jahr um 15 %. Fast jeder zweite Berlin-Besucher kommt inzwischen aus dem Ausland. In Europa ist Berlin als Touristenziel die Nummer drei hinter London und Paris, aber vor Rom, Madrid oder St. Petersburg. Weltweit liegt es noch vor Tokio oder Shanghai. In enormer Geschwindigkeit werden neue Hotels aller Güteklassen eröffnet. Weitere sind in Planung. Die Tourismusindustrie rechnet langfristig mit hohen Wachstumsraten.

Berlin ist die einzige deutsche Stadt, die international als Weltstadt wahrgenommen wird. Das liegt nicht in erster Linie an seiner Bevölkerungszahl, die im Vergleich mit Städten wie London oder Istanbul eher bescheiden ist. Es liegt an den dramatischen Veränderungen, die Berlin in den vergangenen Jahren erlebt hat. Der Fall der Mauer hatte einen gewaltigen Bauboom zur Folge. Neben viel Durchschnitt hat er auch einige international bemerkenswerte architektonische Leistungen hervorgebracht. Allein der Bund hat in der Hauptstadt für Neubauten und Umbauten mehr als vier Milliarden Euro ausgegeben.

Berlins Attraktivität liegt auch daran, dass es bis heute die Narben offen zeigt, die seine Geschichte der Stadt geschlagen hat: Baulücken, die noch aus der Zeit des Bombenkrieges stammen, trostlose Neubauten aus den Nachkriegsjahrzehnten, in denen es nicht nur an Geld fehlte,  sondern  auch an  Geschmack, riesige Freiflächen, die noch nicht verplant sind, überall Brüche statt Kontinuität, Widersprüche statt saturierter Langeweile. Es ist dieses Unfertige, Vitale, Zukunftsoffene, das auf Menschen aus aller Welt einen unerhörten Reiz ausübt.

Viele kommen, um zu bleiben - gut ausgebildete junge Leute aus aller Herren Länder, Amerikaner und Schweden, Brasilianer und Inder, Russen und Brasilianer, auch viele Israelis. Berlin gilt als Mekka der Kreativen, als eine Stadt mit enormer schöpferischer Energie, vergleichsweise niedrigen Mieten, einem entspannten Lebensstil, mit kosmopolitischer Atmosphäre, breitem Kulturangebot, vielfältigem Nachtleben und großer individueller Freiheit.

Eine Industriemetropole klassischer Art wird die Stadt nicht wieder werden. Aber sie hat die Chance und den Willen, ihrer geschichtlich bedingten Armut zu entkommen.  Tourismus, Internet, Kreativwirtschaft, Gründerszene: sie sind die Energiezentren der neuen Berliner Wirtschaft und die Motoren des neuen Wachstums.  Alle vier leben davon, dass Berlin eine Metropole ist – die einzige, die Deutschland hat. Inzwischen tragen sie selbst maßgeblich zur Erfolgsgeschichte dieser Metropole bei.

 Kapitale und Metropole

„Eine Nation, die keine sein will, braucht keine Hauptstadt“, hat eine kluge Frau gesagt. Die alte Bundesrepublik wusste, dass sie nur den einen, den freien Teil der deutschen Nation vertrat. Sie brauchte keine Hauptstadt, nur einen Regierungssitz. Bonn war diesem deutschen Teilstaat, der sich als Provisorium verstand, als Regierungssitz durchaus angemessen.

Das wiedervereinte Deutschland will eine Nation sein. Seit die Bürger der DDR im Herbst 1989 „Wir sind ein Volk“ riefen, haben sich die Deutschen in Ost und West zu dieser einen Nation bekannt – auch wenn die alten Bonner Parteien eine Weile brauchten, bis sie bereit waren, die Konsequenz aus diesem Bekenntnis zu ziehen. Berlin ist die Hauptstadt der deutschen Nation – darüber gibt es keinen Streit mehr.

Aber was muss eine Hauptstadt über die Funktion des Regierungssitzes hinaus für ein Land leisten, das eine Konzentration aller Macht und allen kulturellen Glanzes an einem einzigen zentralen Ort ausdrücklich nicht will?  Kurt Biedenkopf hat dazu schon vor  zehn  Jahren  in einer leider kaum beachteten Debatte der Deutschen Nationalstiftung das Konzept   der  Metropole vorgetragen. Von einer Metropole verlangt er, dass sich die Menschen eines Landes von ihr repräsentiert fühlen und dass die Außenwelt in dieser Metropole die Geschichte und den Charakter eines Landes erkennt.

Beides, sagt Biedenkopf, kann eine Stadt nur leisten, wenn sie nicht nur der Sitz der staatlichen Macht ist, sondern zugleich auch „kulturelles Zentrum des Landes“. In einem Bundesstaat, dessen  Verfassung  die  Kulturhoheit  ausdrücklich den Ländern zuweist, kann diese Forderung missverstanden werden. Bayern und Sachsen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen würden es sich zu Recht verbitten, von einer kulturellen Zentrale in die Rolle der Provinz gedrängt zu werden. Die Opernhäuser in München und Dresden sind denen in Berlin zumindest ebenbürtig, die Museen desgleichen. Es macht ja gerade den Reichtum Deutschlands aus, um den uns andere europäische Länder beneiden, dass es in Deutschland nicht nur ein kulturelles Zentrum gibt, sondern viele. Biedenkopf, der selbst lange Zeit Ministerpräsident eines auf sein Kulturerbe stolzen Landes war, weiß das natürlich.

Sein Diktum vom „kulturellem Zentrum des Landes“ meint etwas anderes. Die Hauptstadt muss  Deutschland als Kulturnation in einer Weise repräsentieren, in der sich die deutschen Länder, ungeachtet ihrer historischen, ethnische n und kulturellen Unterschiede wiederfinden können. Sie muss deshalb beides sein: Kapitale und Metropole, Ort der politischen Entscheidung und Ort von  kulturellen und wissenschaftlichen Spitzenleistungen. Das internationale Gewicht der Kultur- und Wissenschaftsnation  Deutschland hängt zu einem großen Teil von der Ausstrahlung ihrer Hauptstadt ab. Deren Rang zu sichern, liegt deshalb im Interesse nicht nur des Bundes, sondern auch der Länder.

Berlin hat drei Opernhäuser, fünf staatliche Theater, sieben Orchester, darunter drei von Weltrang, und drei Kunsthochschulen. Berlin hat vier Universitäten,  von denen zwei zum exklusiven Club der sogenannten „Exzellenzuniversitäten“  gehören, sieben Fachhochschulen, sehr viele Forschungsinstitute. Berlin hat eine Akademie der Künste und eine Akademie der Wissenschaften. Berlin hat über zwanzig Kunstmuseen und ungezählte Kunstgalerien,  ein nationales Geschichtsmuseum und das Jüdische Museum,  ein Naturkunde- und ein Technikmuseum und viele andere.

Dazu kommt eine vitale freie Theater- und Musikszene, eine wachsende Filmwirtschaft, eine gar nicht zu überschauende Off-Kultur. Ein bisschen viel für eine Stadt, die sich nicht aus eigener Kraft finanzieren kann? Wer Berlin als ein kleines Bundesland sieht, wird es für zu viel halten. Wer von Berlin verlangt, dass es als international ausstrahlende Hauptstadt die Kulturnation Deutschland in der Welt repräsentiert, der wird diese Fülle nicht kritisieren.

Nicht nur Kapitale, sondern auch Metropole zu sein, diese Doppelrolle kann in Deutschland nur Berlin ausfüllen. Die Stadt steht wie keine andere für die deutschen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, sie steht aber auch für den Triumph der Freiheit über die Zwangsherrschaft. Sie ist das Labor der mühsamen inneren Einigung der Deutschen nach Jahrzehnten der Teilung, sie nimmt mit ihrem hohen Migrantenanteil die Herausforderung an, dass Deutschland eine Einwanderungsland geworden ist, sie erprobt den Übergang Deutschlands von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, und sie steht für ein grundlegend verändertes Verhältnis der Deutschen zur Welt.

 Berlin ist der deutsche Geschichtsort par excellence – jedenfalls für die Geschichte des zwanzigsten  Jahrhunderts. Das Ende der Monarchie, der erste, unglückliche Versuch einer parlamentarischen Demokratie und ihr Abgleiten in die national-sozialistische Barbarei, der Mord an den europäischen Juden und der Zweite Weltkrieg, die Teilung Deutschlands und die Wiedervereinigung, die Verankerung  des wiedervereinten Deutschland in der zivilisierten Welt – für all das gibt es in Berlin Erinnerungsorte. Bebelplatz und Güterbahnhof Grunewald, Bendlerblock und Wannseevilla, Luftbrückendenkmal und Sowjetische Ehrenmale, Tränenpalast und Hohenschönhausen, Reichstag und Brandenburger Tor (beide Symbole der Einheit und der Freiheit) – alle diese Orte und Dutzende anderer repräsentieren nicht Berliner Lokalgeschichte. Sie stehen für die nationale Geschichte der Deutschen im Zwanzigsten Jahrhundert.

Wichtiger noch als die Zahl dieser Erinnerungsorte ist, was sie über den Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte aussagen. Am deutlichsten wird das beim Holocaust-Mahnmal. Dass eine Nation die Initiative einer ursprünglich kleinen Gruppe von Bürgern aufnimmt und auf der Grundlage eines Parlamentsbeschlusses  ein unüber-sehbares Denkmal ihrer Schuld in die Mitte ihrer Hauptstadt baut, das ist wohl ohne Beispiel – wie das Verbrechen, dem das Denkmal gilt. Was das Holocaust-Mahnmal im Großen ausdrückt, das zeigt sich im Kleinen an Hunderten Erinnerungstafeln an Wohnhäusern und an Tausenden von „Stolpersteinen“, eingelassen in den Bürgersteig vor Häusern, in denen einst Juden wohnten, die später ermordet wurden.

Es hat zwei Generationen gedauert, bis diese Bereitschaft zum Erinnern sich als gemeinsame Haltung der Deutschen durchgesetzt hat. Noch in den späten Achtzigerjahren diente die Wannseevilla nicht als Gedenkort, sondern als Landschulheim.  An dem Ort neben dem Gropiusbau, wo einst Gestapo und SS ihre Hauptquartiere hatten und wo heute das eindrucksvolle Dokumentationszentrum für die NS-Täter, die „Topographie  des Terrors“  steht,  an  diesem Ort  betrieb  damals  ein  Unternehmer namens „Straps-Harry“ ein Autodrom zum Fahren ohne Führschein und warb auf einer großen Holztafel für sein Transvestitenkabarett „Dreamboy’s Lachbühne“. Niemand schien sich daran zu stören. Die Menschen wollten die lästige Erinnerung lieber verdrängen.

Eine Generation später stellen sich die Deutschen ihrer Vergangenheit. Berlin geht darin voran. Die Welt nimmt es zur Kenntnis, erleichtert und mit Respekt.

Der kritischen Befassung mit der eigenen Geschichte korrespondiert ein verändertes Verhältnis zur Außenwelt. Dieses Verhältnis ist gekennzeichnet durch friedliche Nachbarschaft, europäisches Engagement, Einsatz für Menschenrechte, Neugier für das Fremde, Solidarität mit Dissidenten aus unfreien Ländern. Auf eine Formel gebracht: Weltverantwortung ohne Machtanspruch. Diese Haltung zur Welt prägt die Stadt.

Beispiel Barenboim-Akademie: Daniel Barenboim, der Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden, verlegt den Sitz seines inzwischen weltberühmten „West-Eastern-Divan-Orchestra“ nach Berlin und gründet für seine jungen Musiker aus den verfeindeten Ländern des Nahen Ostens eine Akademie, an der sie nicht nur gemeinsam musizieren, sondern auch die Kunst des friedlichen Zusammenlebens erlernen sollen.

Beispiel Forum Transregionale Studien: eine international hoch angesehene Initiative der großen Berliner Wissenschaftseinrichtungen, die jüngere  Forscher aus Weltregionen wie Ostasien, Lateinamerika oder der arabischen Welt in Berlin mit Vertretern klassischer Wissenschaften wir Jurisprudenz, Ökonomie oder Geschichte  zusammenführt. Ziel ist eine neue Art grenzüberschreitender Forschung, die unser westlich geprägtes Bild von der Welt korrigiert, die Reputation Berlins als eines internationalen Wissenschaftsstandorts stärkt und Brücken beispielsweise in die muslimische Welt baut.

Beispiel  Transparency International: die in Berlin ansässige Organisation kämpft weltweit gegen Korruption und für Transparenz im Verhältnis von Staaten und Unternehmen.

Beispiel Filmfestspiele. Die Berlinale produziert weniger Glamour und importiert weniger Hollywood-Stars als Cannes oder Venedig. Dafür bringt sie mehr Weltpremieren als Cannes und Venedig zusammen. Sie setzt Osteuropa und unfreie Länder wie den Iran auf die Weltkarte des Kinos und sie prämiert Regisseure, die in ihrer Heimat unter großen Risiken arbeiten müssen.

Beispiel Krankenhaus Waldfriede: in Zehlendorf wurde die weltweit erste Klinik für genitalverstümmelte Frauen aus islamischen Ländern eröffnet.

Beispiel Stiftung Zukunft Berlin: neben ihren vielfältigen hauptstadtbezogenen Aufgaben engagiert sich diese Stiftung besonders für die Stärkung Europas, vordringlich für engere Beziehungen zu den östlichen Nachbarn Deutschlands und zu den baltischen Staaten.

American  Academy (die den Kontakt zur intellektuellen Elite der USA auch in den Bush-Jahren aufrechterhielt, als die zwischenstaatlichen Beziehungen belastet waren), Wissenschaftskolleg, Haus der Kulturen der Welt, Künstlerprogramm des DAAD, Young Euro Classic (ein jährliches Festival von Jugendorchestern aus aller Welt), Literarisches Kolloquium - die Liste ist bei weitem nicht vollständig. Alle diese Berliner Institutionen verbindet die Neugier auf die Kultur in anderen Regionen der Welt, das Interesse an internationalem Austausch und das Engagement für unterdrückte Künstler und Wissenschaftler.

Diese Art verantwortlicher Weltoffenheit wirkt inzwischen auf Berlin zurück. Ohne dass irgendjemand das organisiert hätte und kaum bemerkt von der Öffentlichkeit hat sich die Stadt in den letzten Jahren zum Zufluchtsort für Dissidenten entwickelt, die in ihren Heimatländern gegen Unterdrückung und  staatliche Gewalt aufbegehrt hatten  und denen am Ende nur die Emigration blieb.

Die Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz aus Ungarn und Hertha Müller aus  Rumänien verließen ihre Heimatländer, sobald sie durften, und leben  seither in Berlin, neuerdings auch der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. Der iranische Dichter Said und sein  Landsmann  Shafin Najafi, von den Mullahs durch eine Fatwah mit dem Tode bedroht, haben in Berlin Zuflucht gefunden. Auf den chinesischen  Künstler  Au  Weiwei,  ständig  bedroht  vom  chinesischen Sicherheitsapparat, wartet eine Professur an der Universität der Künste, sobald er ausreisen darf. Die Freie Universität hat sich als erste deutsche Hochschule dem internationalen Projekt 2„Scholars at Risk“ angeschlossen, das exilierten Forschern Arbeits- und Lebensmöglichkeiten sichert.

Dass Berlin heute für junge Leute, für kreative Geister und für Dissidenten in aller Welt zum Sehnsuchtsort geworden ist, das ist die Folge einer fundamentalen Veränderung der Stadt. Das Ausmaß dieser Veränderung versteht man am besten, wenn man sich an den Beginn der Nazi-Herrschaft vor achtzig Jahren erinnert. Das Berlin des Jahres 1933 war das Jahr der „Gleichschaltung“, des Arier-Paragraphen, der Bücherverbrennung, der Zerstörung des Rechtsstaats, des Verbots von Parteien und Gewerkschaften, der Gewalt gegen Andersdenkende und des Terrors gegen die Juden, der Zerstörung der Vielfalt. Von Berlin floh ein Großteil der geistigen Elite Deutschlands ins Exil.

Das Berlin von heute wünscht und fördert die Vielfalt, es bietet Exilanten Heimat, es wirbt um internationale Spitzenwissenschaftler, es ist bunt und tolerant. Aus der Hauptstadt der Nazis und der Frontstadt des Kalten Krieges ist eine Stadt der Freiheit geworden.

Mit alledem zeigt Berlin der Welt, wie gründlich sich die Deutschen geändert haben. Vor achtzig Jahren waren sie  in ihrer Mehrheit Antidemokraten, Untertanen, Militaristen, Rassisten, gewaltbereite Nationalisten.

Das Deutschland von heute ist ein geschichtsbewusstes, demokratisches, rechts-staatliches, friedfertiges, weltoffenes, der Menschenwürde verpflichtetes Land. Vor diesem Deutschland muss sich die Welt nicht mehr fürchten. Diese Botschaft überzeugend zu symbolisieren, das ist die wichtigste Leistung der Hauptstadt für die Nation.

Fehlkonstruktion Bundesland

Berlin ist seit der Wiedervereinigung zugleich deutsche Hauptstadt und eines von sechzehn Bundesländern. Das ist eine sonderbare Kombination, ohne Beispiel in der deutschen Geschichte.

Nie zuvor war Berlin ein Land gewesen. In preußischer Zeit war es Hauptstadt, nichts sonst. Preußen war unterteilt in zwölf Provinzen. Berlin war keine dieser Provinzen, sondern Hauptstadt. Unter der Nazi-Diktatur waren die Länder abgeschafft.  Während  der Jahrzehnte der deutschen Teilung unterstand ganz Berlin der Kontrolle der vier Siegermächte. Westberlin  durfte „kein konstitutiver Teil“ der Bundesrepublik sein und nicht vom Bund regiert werden. Um es dennoch an die Bundesrepublik anzubinden, wurde eine Notlösung erfunden. Westberlin erhielt den Status eines Bundeslandes niederen Standes  - mit Sitz im Bundesrat, aber ohne Stimmrecht. Ostberlin erlangte den Länderstatus vierzig Jahre später unter gänzlich anderen Umständen. Nach dem Sturz des SED-Regimes hatten die Bürger der DDR im März 1990 zum ersten und einzigen Mal ein freies Parlament gewählt. Die vordringliche Aufgabe  dieser letzten Volkskammer war die Wiederherstellung der von der SED abgeschafften Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen - als Vorstufe der Wiedervereinigung. Im Blick auf Berlin war die Volkskammer nur für den Ostteil der Stadt zuständig. „Berlin, Hauptstadt der DDR, erhält Landesbefugnisse“, hieß es dazu im „Ländereinführungsgesetz“ vom Juli 1990.  Es war als Provisorium für die kurze Zeit bis zur Wiedervereinigung gedacht.

Aus der Vereinigung einer Notlösung mit einem Provisorium entstand das Land Berlin. Als Wolfgang Schäuble und Günter Krause am 31. August 1990 für die Regierungen  der beiden  deutschen  Staaten  den  Einigungsvertrag  unterschrieben,

wurde ganz Berlin zum Bundesland. Artikel 1, Ziffer 2 des Einigungsvertrags lautete: „Die 23 Bezirke von Berlin bilden das Land Berlin.“ Noch im selben Jahr, am 2. Dezember 1990, fanden  die ersten Gesamtberliner Wahlen zum Abgeordnetenhaus statt.

Im Wendejahr 1990 mussten unter enormem Zeitdruck Entscheidungen von historischer Tragweite getroffen werden: Zwei-plus-Vier-Gespräche zur Beendigung des Vier-Mächte-Status, Überwindung des Ost-West-Patts gegenseitiger Bedrohung, Abzug der ausländischen Truppen, endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutscher Ostgrenze, Selbstabschaffung der DDR und Beitritt zur Bundesrepublik - für das alles musste nicht nur die Zustimmung der Sowjetunion gesucht werden, deren Truppen noch in der DDR standen, sondern auch das Einverständnis der Verbündeten in London, Paris und Rom, die Deutschlands Vereinigung mit einigem Missvergnügen sahen.

Gemessen an diesen weltgeschichtlichen Veränderungen  war der künftige Status Berlins im föderalen System des wiedervereinigten Deutschlands ein Randproblem. Dass Berlin über Jahrhunderte nicht nur ein Teil, sondern die Hauptstadt und Mitte Brandenburgs war, spielte bei den Akteuren dieses dramatischen Wandels keine Rolle. Die  Erfindung des Bundeslandes Berlin war ein Nebenprodukt der Wieder-vereinigung, entstanden in atemloser Eile, ohne Rücksicht auf historische Zusammenhänge, ohne Abwägung möglicher Alternativen und ohne öffentliche Debatte.

Dass Berlin die deutsche Hauptstadt sein würde, wenn Deutschland wieder vereint wäre, das hatten die Bonner Parteien während der Jahrzehnte der Teilung tausend-mal beschworen. Aber wie viel waren diese Schwüre wert? Im Artikel 2 des Einigungsvertrags  hieß  es knapp  und klar: „Hauptstadt Deutschlands ist Berlin.“ Aber dann folgte ein sonderbarer Nachsatz: „Die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung wird nach der Herstellung der Einheit Deutschlands entschieden.“

Wie das? Wie sollte Berlin Hauptstadt sein, wenn Regierung und Parlament, Botschaften und Verbände weiter in Bonn blieben? Eine Hauptstadt ehrenhalber, vielleicht mit einem Bundespräsidenten im Schloss Bellevue und einem Kranz-ablegeplatz für durchreisende Staatsbesucher in der Neuen Wache? Eine Hauptstadt nur dem Namen nach, ohne das politische Entscheidungszentrum? Schäuble wusste, dass viele seiner Bonner Kollegen quer durch die Parteien an dem liebenswerten, kleinen Bonn hingen und trotz der alten Beteuerungen massive Vorbehalte gegen einen Umzug nach Berlin hatten. Ohne eine Entscheidung des neuen, gesamt-deutschen Parlaments ließ sich das Problem nicht lösen.

Diese Entscheidung fiel am 20. Juni 1991 nach einer der leidenschaftlichsten Debatten der deutschen Parlamentsgeschichte. Der Riss ging quer durch die Parteien. Das Ergebnis war denkbar knapp - 337 Stimmen für Berlin, 320 für Bonn,   2 Enthaltungen. Die Kommentatoren waren sich einig: ohne die engagierten Plädoyers von Willy Brandt und Wolfgang Schäuble hätte es für Berlin wohl nicht gereicht. Aber wahr ist auch: ohne die PDS, deren 17 Abgeordnete geschlossen für Berlin stimmten, hätten Brandts und Schäubles Einsatz nicht geholfen. Die Mehrheit von CDU und SPD wäre lieber am Rhein geblieben. Ohne die PDS hieße Deutschlands Hauptstadt  heute nicht Berlin, sondern Bonn.

Berlin war nun offiziell beides: Bundesland und Hauptstadt. Aber es war auf die Doppelrolle nicht vorbereitet. Für die Frage nach der Funktion der Hauptstadt in einem föderalen Staat war die Zeit noch nicht reif – zu viele und zu große praktische Probleme mussten in kurzer Zeit bewältigt werden. Eine Metropole, deren beide Hälften  bisher   feindlichen  Weltsystemen  angehört   hatten, musste vereint werden – mit enormen Folgekosten der jahrzehntelangen Teilung, mit einem riesigen Investitionsbedarf, ohne industrielle Basis, ohne nennenswerte Gewerbesteuer und mit hoher Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig sollte Berlin auch noch für die kulturelle Erbschaft zweier bis dahin hoch subventionierter Halbstädte aufkommen. Es war keine günstige Zeit für theoretische Verfassungsdebatten.

Vom Bund hatte Berlin nicht viel zu erwarten. Die Subventionen wurden nach der Wiedervereinigung der Stadt drastisch zurückgefahren, teils weil nun auch Rostock und Dresden, Leipzig und Magdeburg gefördert werden mussten, teils weil höhere Aufwendungen für Berlin nach der  hart umkämpften Hauptstadtentscheidung im Bundestag keine Mehrheit gefunden hätten. Es war deshalb für die Stadt fast überlebenswichtig, eine neue Geldquelle aufzutun. Das Ziel hieß Länderfinanzausgleich. 1995 wurde Berlin in den Länderfinanzausgleich aufgenommen.

Im gleichen Jahr gab sich Berlin eine neue Verfassung. Man hätte sich vorstellen können, dass die künftige Hauptstadtrolle, festgelegt im Einigungsvertrag und bestätigt durch den Umzugsbeschluss des Bundestages, das Pathos dieser Verfassung   bestimmt hätte.  Etwa  so:  „Art. 1,  Ziffer 1:  Berlin  ist  die  Hauptstadt Deutschlands.  Ziffer 2:  Als die Hauptstadt eines föderalen Staates hat Berlin die Aufgabe, Bund und  Länder gleichermaßen zu repräsentieren.“ Keine Spur. Das Wort „Hauptstadt“ wird in der Berliner Verfassung nur einmal erwähnt, nämlich in der Präambel, und zwar so beiläufig und folgenlos, dass diese Präambel im Text der Landesverfassung auf der offiziellen Website Berlins nicht einmal  mehr abgedruckt wird – man hält sie für entbehrlich.

Das vordringliche Interesse der Berliner Verfassung ist nicht die Hauptstadtrolle, sondern sein Status als Bundesland. Art. 1 Ziffer 1 lautet: „Berlin ist ein Land und eine Stadt“. Und, damit es auch  niemand  missversteht, bekräftigt Art. 1 Ziffer 2: „Berlin ist

ein Land der Bundesrepublik Deutschland.“ Darauf kam es der Berliner Politik an: als eines der sechzehn Bundesländer an die Fleischtöpfe des Länderfinanzausgleichs zu gelangen.

In der alten Bundesrepublik war der Länderfinanzausgleich ein vom Grundgesetz bereitgestelltes Instrument zu einem maßvollen Ausgleich der Lebensverhältnisse zwischen mehreren finanzstarken und mehreren finanzschwachen Ländern, zwischen Geber- und Nehmerländern, im Detail immer umkämpft, im Grundsatz unbestritten. Im wiedervereinigten Deutschland hat er diese Rolle äußerlich beibehalten, in Wirklichkeit aber dramatisch verändert. Er dient jetzt überwiegend dazu, die wirtschaftlich darbende Hauptstadt mit Geldern der anderen Bundesländer finanziell über Wasser zu halten.

Von dem gesamten Volumen des Länderfinanzausgleichs erhält Berlin knapp über vierzig Prozent - mehr als das Saarland, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen  zusammen. Das ist eine Perversion der ursprünglichen Idee. So, wie er derzeit praktiziert wird, schadet der Länderfinanzausgleich allen Beteiligten. Für Berlin schafft er falsche Abhängigkeiten. Das föderale System gerät durch die gigantische Dauersubvention der Hauptstadt an die Grenzen seiner Funktionsfähigkeit.

Die Zahl der Geberländer ist inzwischen auf drei geschrumpft. Dass Bayern und Hessen wegen  des  Länderfinanzausgleichs  das Bundesverfassungsgericht anrufen

wollen, lässt sich nicht als Wahlkampfgetöse abtun. Kein bayerischer Ministerpräsident kann seinen Wählern überzeugend begründen, warum sie auf Dauer ein Drittel des Berliner Landeshaushalts finanzieren sollen.

Für Berlin ist der Länderfinanzausgleich – und damit der Status als Bundesland -bisher lebensnotwendig. Aber  dieser Status bringt der Hauptstadt drei gravierende Nachteile:

Erstens schafft sich Berlin im Verhältnis zu den anderen Bundesländern  fort-während Feinde: unter den nehmenden, weil es mit ihnen um die gleichen Fleischtöpfe konkurriert, unter den Geberländern, weil es ihnen gegenüber als ewiger Bittsteller auftritt.

Zweitens wird Berlin international den falschen Maßstäben unterworfen:  als nehmendes Bundesland wird es mit Sachsen-Anhalt oder dem Saarland verglichen, als internationale Metropole muss es sich mit New York, London, Paris und Singapur messen.

Drittens darf der Bund seine Hauptstadt ausgerechnet auf den beiden Feldern nicht nach eigenem Ermessen unterstützen, die Berlins internationalen Rang ausmachen: Kultur und Wissenschaft. Beide sind nach dem Grundgesetz Ländersache.

Bei näherer Betrachtung ergibt sich allerdings ein differenziertes Bild. Die meisten der weltberühmten Museen Berlins stammen aus preußischer Zeit und lagen während der Jahrzehnte der deutschen Teilung auf Ostberliner Gebiet. Nach der Wiedervereinigung kamen sie zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK), ebenso wie die alte Staatsbibliothek Unter den Linden. Von den laufenden Kosten der SPK  trägt der Bund 75 %, die Länder 25 %. Die enormen Baukosten für die Museen und die Staatsbibliothek trägt der Bund seit 2002 allein. Im Klartext: bei Museen und Staatsbibliothek betreibt der Bund seit langer Zeit kräftige Kulturfinanzierung in der Hauptstadt. Berlin ist von diesen Kosten befreit.

Anders verhält es sich bei Opern und Theatern. Die Staatsoper Unter den Linden war über Jahrhunderte die Königliche Oper Preußens, auch die Komische Oper stammt aus  preußischer  Zeit,  wurde  aber  erst  in der DDR  zu einem renommierten Opern-

haus. Beide  Opernhäuser sind so gesehen „Preußischer  Kulturbesitz“, gerieten aber nach der Wiedervereinigung in die Obhut des Landes Berlin und gehören seit 2004 zusammen mit der Deutschen Oper zur „Stiftung Oper Berlin.“ Das Land Berlin finanziert drei Opernhäuser und vier staatliche Sprechbühnen. Der Bund beteiligt sich  allerdings an der Generalsanierung der Staatsoper Unter den Linden mit einem namhaften Betrag.

Sein kulturelles Engagement begründet der Bund auf der Website des Staatsministers für Kultur mit zwei programmatischen Sätzen. „Die kulturelle Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt ist Aufgabe des Bundes.“ Und: „Der Bund hat ein starkes Interesse an einem attraktiven kulturellen Leben in der Hauptstadt, das ihre Bedeutung als Repräsentantin unserer Kulturnation widerspiegelt“. Wie diese Sätze mit der vom Grundgesetz festgelegten „Kulturhoheit der Länder“ zusammenpassen, mögen Verfassungsjuristen beurteilen.

Für Berlin haben sie jedenfalls erfreuliche Folgen. Der Bund finanziert als Träger eine ganze Reihe bedeutender Kulturinstitutionen in der Hauptstadt, z.B. das Deutsche Historische Museum, das Jüdische Museum, die Akademie der Künste, das Haus der Kulturen der Welt, die Berliner Festspiele, die Deutsche  Kinemathek, den Martin-Gropius-Bau. Dazu kommen die nationalen Gedenkstätten, vom Holocaust-Denkmal über die Gedenkstätte Deutscher Widerstand bis zu Erinnerungsorten der deutschen Teilung.

Was kaum jemand weiß: der Bund tritt darüber hinaus in Berlin ganzjährig als Kulturveranstalter auf. Die großen Festivals von den Internationalen Filmfestspielen im Februar über das Theatertreffen im Mai, das Internationale Musikfest im September, das Internationale Literaturfestival im gleichen Monat bis zum Jazzfest im November werden vom Bund bezahlt. Sie sind zusammengefasst in einer Organisation mit dem leicht verwechselbaren Namen KBB. Zu Deutsch: „Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH“.

Dieses Hauptstadtengagement ist dem Bund jährlich 400 Millionen Euro wert, die enormen Ausgaben für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz nicht mitgerechnet. Sogar der Wiederaufbau des Berliner Schlosses, das künftig unter dem Namen „Humboldt-Forum“ als Zentrum des Dialogs zwischen den Kulturen der Welt und der Wissenschaft dienen soll, wird als nationales Projekt vom Bund finanziert.

Anders ist die Situation bei der Wissenschaft. Von den vier Berliner Universitäten stammen drei aus preußischer Zeit: die Humboldt-Universität (gegründet 1810), die Technische Universität (gegründet 1879), die Universität der Künste, hervorgegangen aus der Fusion der Hochschule für Musik (gegründet 1869) mit der Hochschule für Bildende Künste (gegründet 1875). Auch sie waren einmal „preußischer Kulturbesitz“. Nur die Freie Universität  und die Musikhochschule Hanns Eisler sind Gründungen aus der Zeit der Teilung der Stadt. Die FU entstand 1948, weil die alte Berliner Universität nun in Ostberlin, also im Herrschaftsbereich der SED lag, die Musikhochschule Hanns Eisler, weil die alte Musikhochschule nun in Westberlin lag. 

Alle diese Hochschulen, ob sie aus Preußen stammen, aus der DDR oder aus Westberlin, werden heute vom Land Berlin finanziert. Der Bund ist nicht beteiligt. Berlin strengt sich mächtig an, um Größe und Qualität seiner Universitäten zu erhalten – durchaus mit Erfolg: Humboldt-Universität und FU gehören zu den „Exzellenzuniversitäten“, also zu den absoluten Spitzeneinrichtungen der deutschen Wissenschaft. Die Technische Universität hat immerhin einen Exzellenz-Cluster.

Aber Berlin muss die Finanzierung seiner Hochschulen nach den Möglichkeiten des Landeshaushalts ausrichten. Weil der letzte Zensus ergeben hat, dass die Hauptstadt deutlich weniger Einwohner hat als bisher angenommen, erhält sie künftig pro Jahr 500 Millionen Euro weniger aus dem Länderfinanzausgleich. Der Finanzsenator muss entsprechend sparen, die Universitäten bekommen weniger Geld. Das bedeutet: die finanzielle Ausstattung der Wissenschaft in Berlin wird nicht langfristig von den Erfordernissen des internationalen Wettbewerbs bestimmt, auch nicht von der Hauptstadtrolle (für den Eigenbedarf ihrer lokalen Wirtschaft und Verwaltung bräuchte Berlin nicht 160 000 Studierende). Sie ist von den kurzfristigen Haushaltszwängen eines nehmenden Bundeslands abhängig – bis hin zu den Folgen einer Volkszählung, die mit Wissenschaftsplanung gar nichts zu tun haben.

Dem Bund sind die Hände gebunden. Weil Wissenschaft Ländersache ist und weil Mischfinanzierungen seit der Föderalismusreform I verboten sind, kann der Bund  auf die finanzielle Ausstattung der Wissenschaftsinstitutionen in der Hauptstadt nur durch Sonderprogramme wie die „Exzellenzinitiative“ Einfluss nehmen. Ein allgemeines Recht zur Mitfinanzierung von Wissenschaftsinstitutionen mit nationaler Bedeutung hat der Bund bislang nicht reklamiert - so wie er das auf dem Felde der Kultur längst praktiziert. Allerdings wird er genau dazu aus vielen Richtungen der Republik gedrängt. Eine Grundgesetzänderung, die es dem Bund erlaubte, im ganzen Land Wissenschaft als nationale Zukunftsaufgabe zu fördern, würde auch der Hauptstadt spürbar zugutekommen.

Die Hauptstadtrolle Berlins ist seit 2006 im Grundgesetz festgeschrieben. Der Art. 22  heißt: „Die Hauptstadt der Bundesrepublik ist Berlin. Die Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt ist Aufgabe des Bundes. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt.“ Interessanterweise gibt es dieses Bundesgesetz bis heute nicht. Weder der Bund noch Berlin hatten ein Interesse daran, dass es zustande kam. Den Bund hätte dieses Gesetz stärker in die Pflicht genommen, er wollte das vermeiden.  Berlin   wollte  zwar  aus  Prestigegründen  ins Grundgesetz (die Initiative ging vom Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit aus), aber seinen Länderstatus nicht in Frage stellen. Also verständigten sich beide darauf, das Ausführungsgesetz zum Hauptstadtartikel des Grundgesetzes gar nicht erst anzupacken. Ersatzweise  schlossen sie 2007 einen  „Hauptstadtfinanzierungsvertrag“. Er regelt „den aus der Hauptstadtfunktion abgeleiteten Finanzierungsanspruch Berlins an den Bund“.

Dieser Vertrag läuft Ende 2017 aus, der Länderfinanzausgleich 2019. Berlin wird also mit beiden Geldgebern, dem Bund wie den Ländern, neu verhandeln müssen. Nach wie vor klammert es sich an den Länderfinanzausgleich. Aber es kann nicht darauf hoffen, dass es noch einmal so üppig bedacht wird, wenn dieser Finanzausgleich neu

verhandelt wird. Es darf das nicht einmal wünschen. Denn solange Berlin ein Bundesland bleibt, kann es die Hauptstadtrolle nicht angemessen ausfüllen.

Der Status Berlins als Bundesland Berlin ist verfassungsrechtlich, politisch und finanziell eine Fehlkonstruktion. Er nimmt den Bund zu wenig, die Länder zu sehr in Anspruch. Die Sympathie, die Berlin als Hauptstadt genießt, verscherzt es sich wieder als Bundesland. Erst wenn es aufhört, ein Land zu sein, wird es frei, seine Rolle als Hauptstadt  wahrzunehmen.

Die Alternative

Erstaunlicherweise stellt sich die Frage nach der Rolle der Hauptstadt in einem föderalen Staat zum ersten Mal. Deutschland hatte in seiner Geschichte vor der Wiedervereinigung zweimal einen demokratischen Staat, die Weimarer und die Bonner Republik.

Die Weimarer Republik war zwar formal ein Bundesstaat. Sie bestand aus achtzehn Ländern. Es gab sogar eine Länderkammer, den Reichsrat, der allerdings nur eine dekorative Rolle spielte. Aber Preußen war viel zu groß – es gebot immer noch über zwei Drittel der Fläche und fast zwei Drittel der Bevölkerung Deutschlands -, andere  Länder waren  viel zu klein, um gemeinsam mit Preußen eine sinnvolle föderale Struktur zu begründen. Die meisten dieser „Länder“ waren ehemalige Duodezfürstentümer, denen im Zuge  der Abschaffung der Monarchie 1919 der Fürst abhanden gekommen war (Beispiel: der „Freistaat Schaumburg–Lippe“, Hauptstadt Bückeburg, 48.000 Einwohner).

Die Weimarer Republik hatte eine Hauptstadt, war aber nicht wirklich ein föderaler Staat. Die Bonner Republik war aus Überzeugung ein föderaler Staat, aber sie hatte keine Hauptstadt, sondern nur einen Regierungssitz. Das Wort „Hauptstadt“ kam im Bonner Grundgesetz nicht einmal vor. Das wiedervereinigte Deutschland hat zum ersten Mal beides: den föderalen Staat und die Hauptstadt.

Aber es weiß mit dieser geschichtlichen Chance bisher nicht viel anzufangen. Der Bund fremdelt auch fünfzehn Jahre nach dem Umzug an die Spree gegenüber  seiner Hauptstadt immer noch so, als sei er dort nicht zuhause, sondern bestenfalls zur Miete. Finanzverhandlungen mit Berlin – jedenfalls wenn  der  Finanzminister  sie führt - gehen nicht um die Frage, wie der Bund seine Hauptstadt angemessen ausstatten kann, sondern darum, wie er die Mieterhöhungen möglichst niedrig hält.  (Beim Staatsminister für Kultur ist das anders – davon später).

Berlin nimmt zwar gern Geld aus der Bundeskasse, ist aber ganz einverstanden damit, dass der Bund sich nicht stärker einmischen will. Die Stadt will lieber Bundesland sein als Hauptstadt, weil sie nur so den Zugang zu den Futterkrippen des Länderfinanzausgleichs behält. Auch die Mehrheit der anderen Bundesländer stellt den Status quo nicht in Frage. Man hat sich schon so lange in der bestehenden Gestalt des deutschen Föderalismus eingerichtet. Reformen sind anstrengend. Da spart man lieber Kräfte. Und Alternativen waren bisher nicht in Sicht.

Dass Zentralismus keine Alternative sein kann, darüber sind sich alle einig. Niemand will die Länder abschaffen. Niemand wünscht, dass alle Einrichtungen des Bundes in der Hauptstadt konzentriert werden. Die obersten Bundesbehörden sind über die ganze Republik verstreut, die obersten Gerichte haben ihren Sitz in Karlsruhe, Leipzig, Erfurt und München, das deutsche Finanzzentrum liegt in Frankfurt, die überregionalen Zeitungen und die großen Fernsehanstalten haben ihre Zentralen nicht in Berlin. Das soll so bleiben. Vor allem gehört es zum föderalen Grundkonsens, dass Deutschland auch in Zukunft viele bedeutende Kulturzentren haben soll, nicht nur eines in der Hauptstadt.

In den letzten zwanzig Jahren hat es zwei hochrangig besetzte Kommissionen zur Reform des Föderalismus gegeben. Sie befassten sich vordringlich mit der Verteilung der Zuständigkeiten und der Steuern zwischen Bund und Ländern. Das Hauptstadt-Thema kam in beiden nicht vor – ebenso wenig wie das andere große Strukturproblem des deutschen Föderalismus, nämlich der Zuschnitt der Bundesländer, also die Länderneugliederung. Das Hauptstadt-Thema war den Beteiligten entweder nicht geläufig oder lästig, an dem uralten Problem der Neugliederung wollte sich ohnehin niemand die Finger verbrennen. Mit der Aufnahme eines dekorativen, aber politisch nicht ernst gemeinten Hauptstadtparagraphen in das Grundgesetz waren alle Beteiligten offenbar zufrieden.

So bescheiden muss man nicht sein. Die Stiftung Zukunft Berlin schlägt eine anspruchsvolle Alternative vor. Sie macht den Hauptstadtartikel der Verfassung zum Ausgangspunkt für eine tiefgreifende Veränderung der bundesstaatlichen Architektur. Dabei beschränkt sich ihr Vorschlag auf die Reformen, die unmittelbar mit der Hauptstadtfrage zu tun haben. Sie ist sich dabei bewusst, dass das Hauptstadtproblem von den anderen großen Reformen des föderalen Systems nicht isoliert werden kann. Der Länderfinanzausgleich wie die Neugliederung der Länder hängen durchaus mit der Hauptstadtthematik zusammen. Sie gehören zwingend in das Gesamtbild der  Reform des Föderalismus und sie stehen unter den gleichen zeitlichen Zwängen. Sie sind aber nicht Gegenstand dieses Papiers.

Das Konzept der Stiftung Zukunft Berlin nimmt seinen Ausgang vom Hauptstadtartikel des Grundgesetzes und entwickelt daraus einen Reformvorschlag in sechs Thesen.

„Die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland ist Berlin.“  So steht es seit 2006 im  Grundgesetz. Bundestag und Bundesrat haben mit dem Artikel 22 gemeinsam Berlin beauftragt, die Hauptstadt des Bundes und der Länder zu sein. Im Art. 22 heißt es weiter. „Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt“. Dieses Gesetz gibt es bis heute nicht. Weder der Bund noch Berlin noch die anderen Länder waren daran interessiert, dass es entstand. Alle scheuten die politischen Konsequenzen –nämlich eine Reform der föderalen Architektur des deutschen Staates. Die Stiftung Zukunft Berlin schlägt genau diesen Umbau vor:

 Der Status Berlins als Bundesland steht dem Hauptstadtauftrag im Wege. Solange Berlin ein Bundesland bleibt, kann es die Hauptstadtrolle nicht angemessen wahrnehmen.

Berlin als Bundesland - das ist verfassungsrechtlich, politisch und finanziell eine Fehlkonstruktion. Im Verhältnis zu den anderen Bundesländern schafft Berlin sich fortwährend Feinde: unter den nehmenden, weil es mit ihnen um die gleichen Fleischtöpfe konkurriert, unter den Geberländern, weil  es ihnen gegenüber als ewiger Bittsteller auftritt. Der Status als Bundesland unterwirft die Hauptstadt den falschen Maßstäben: als nehmendes Bundesland wird sie mit Bremen oder Sachsen-Anhalt verglichen, als internationale Metropole muss sie mit  New York,  London,  Paris und  Singapur  konkurrieren. Der Status Berlins als Bundesland nimmt den Bund zu wenig, die Länder zu sehr in Anspruch. Die Sympathie, die Berlin als Hauptstadt genießt, verscherzt es sich wieder als Bundesland. Erst wenn es aufhört, ein Land zu sein, wird es frei, seine Rolle als Hauptstadt  auszufüllen.

Berlin gibt seinen Status als Bundesland auf und tritt als Großstadt dem Lande Brandenburg bei - mit dem gemeinsamen Auftrag von Bund und Ländern, die deutsche Hauptstadt zu sein.

Berlin beantragt beim Bund die Aufhebung seines Status als Bundesland. Der Bund verhandelt dann mit Berlin und Brandenburg  sowohl über die Bedingungen, unter  denen  Berlin den Länderstatus aufgeben kann wie über die Bedingungen, unter denen Brandenburg den Beitritt Berlins akzeptieren kann. Nach dem Beitritt heißt dieses Land nicht Berlin-Brandenburg oder Brandenburg-Berlin, sondern einfach Brandenburg. Landeshauptstadt bleibt Potsdam.

Die Verschuldung Berlins ist bisher ein unüberwindliches Hindernis für jede mögliche neue Lösung. Sie ist zu einem großen Teil eine Folgelast seiner Hauptstadtgeschichte. Dieser Teil muss vom Bund übernommen werden. Soweit Berlin diese Verschuldung selbst zu verantworten hat, muss es sie auch selbst abtragen.

 Die strukturelle Armut Berlins hat fünf historische Gründe. Als Folge der Hitlerzeit und des Zweiten Weltkriegs hat Berlin seine wirtschaftliche Basis, seine jüdische Elite und seinen Geldgeber Preußen verloren. Dazu kamen nach dem Krieg die Kosten der Teilung, nach dem Ende der Teilung die Kosten der Wiedervereinigung bei drastischer Reduktion der Bundessubventionen. Diese fünf Gründe sind allesamt Folgen der Tatsache, dass Berlin deutsche Hauptstadt war.

Brandenburg kann einen „Neuzugang“ Berlin, der 60 Milliarden € Schulden mitbringt, nicht verkraften. Die Lösung des Berliner Schuldenproblems ist eine unabdingbare Voraussetzung für einen Beitritt Berlins zum Lande Brandenburg. Sie muss in einer gemeinsamen Anstrengung von Bund und Berlin gefunden werden.

Mit dem Beitritt zum Lande Brandenburg scheidet Berlin aus dem Länderfinanzausgleich aus.

Der Länderfinanzausgleich war in den letzten Jahren zum großen Teil eine verdeckte Dauersubvention der notleidenden Hauptstadt durch die Geberländer Bayern, Baden-Württemberg und Hessen. Er wird durch das Auscheiden Berlins um ca. 40 % seines bisherigen Volumens entlastet.

Der Bund finanziert künftig die großen wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen der Hauptstadt.

 Der internationale Rang der deutschen Hauptstadt hängt vor allem an der Qualität ihrer Kultur und ihrer Wissenschaft. Weil beide nach dem Grundgesetz unter der Hoheit der Länder stehen, darf der Bund seine eigene Hauptstadt auf diesen Feldern bisher nicht unmittelbar  fördern.  Dessen  ungeachtet hat  er  im Bereich der Kultur seit langer Zeit erhebliche Verantwortung in Berlin übernommen, in der Wissenschaft noch nicht. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Der Bund muss die Freiheit erhalten, in seiner Hauptstadt Kultur und Wissenschaft ebenso zu finanzieren wie das die Bundesländer in ihren Hauptstädten tun.

Kosten, die Berlin aus seiner Funktion als Regierungssitz entstehen (Sicherheit, Polizei etc.), trägt der Bund. Für die Finanzierung seiner kommunalen Aufgaben ist Berlin allein verantwortlich.

Mut, Führungskraft und Gemeinsinn

Mehr als zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung ist es an der Zeit, die bundesstaatliche Architektur neu zu durchdenken. Eine derart grundlegende Reform politisch umzusetzen, fordert von allen Beteiligten mehr als nur die Bereitschaft, alte Denkgewohnheiten zu überprüfen. Es erfordert Mut – vielleicht sogar Kühnheit --, Führungskraft und Gemeinsinn.

Brandenburg braucht Mut. Es muss die gegen Berlin gerichteten „Befindlichkeiten“ ablegen, die schon 1996 die Fusion verhinderten und seither von allen Landesregierungen liebevoll gepflegt wurden. Es muss die alten Ängste überwinden, dass Berlin, weil es mehr Einwohner hat als Brandenburg, in einem gemeinsamen Land die Brandenburger dominieren könnte. Ein von dem Schuldenproblem befreites Berlin als Teil eines geeinten Landes Brandenburg – dieser Zuwachs sollte auch in Potsdam nicht als Bedrohung, sondern als Chance verstanden werden. Wenn der neue Flughafen endlich in Betrieb ist und zum Motor des Wachstums in der Hauptstadtregion wird, dann hat das um Berlin vergrößerte Brandenburg sehr gute wirtschaftliche Chancen. Es wird gleichzeitig – mit dann mehr als doppelter Bevölkerung – an politischem Gewicht in Deutschland gewinnen.

Berlin braucht Mut. Der Verzicht auf den Status eines Bundeslandes kann zunächst  als Bedeutungsverlust erscheinen. Aus dem Regierenden Bürgermeister würde - ob mit oder ohne den bisherigen Titel - faktisch ein Oberbürgermeister, aus dem Abgeordnetenhaus ein Stadtrat. Einen  Rechnungshof, ein  Verfassungsgericht,  eine Landesvertretung  beim  Bund  würde Berlin nicht mehr brauchen. Auf der anderen Seite würde die Beschränkung  Berlins  auf  die Hauptstadtrolle seine internationale Bedeutung steigern. Die Stadt würde weltweit aufgewertet: als einzige Metropole Deutschlands und als eine der wichtigsten Hauptstädte Europas.

Der Bund braucht Mut. Bisher ist es für ihn finanziell günstiger, dass Berlin einen großen Teil seiner Einnahmen aus dem Länderfinanzausgleich bezieht. Das hier vorgeschlagene Modell käme für den Bund teurer. Auch die Lösung des Berliner Schuldenproblems würde, soweit sie  eine gesamtstaatliche Aufgabe ist, dem Bundesfinanzminister auf die Füße fallen.

Über die Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern muss in nächster Zeit ohnehin neu verhandelt werden, weil eine ganze Reihe der derzeit geltenden Vereinbarungen auslaufen: 2017 der Hauptstadtfinanzierungsvertrag, der „Hochschulpakt“ und die Exzellenzinitiative des Bundes für die Universitäten, 2019 der Länderfinanzausgleich und der Solidarpakt. 2020 tritt die Schuldenbremse in Kraft. Von da ab dürfen die Länder ihre Haushalte nicht mehr über Schulden finanzieren. Deshalb steht die gesamte Finanzverfassung Deutschlands einschließlich der Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern steht auf dem Prüfstand. Das wäre der richtige Anlass, um gleichzeitig die Rolle und die Finanzierung der Hauptstadt neu zu definieren.

Angesichts der genannten Termine steht die geforderte Reform unter erheblichem Zeitdruck. Aber das muss kein Nachteil sein. Zeitdruck kann zur Konzentration auf das Wesentliche verhelfen. Es geht um Grundentscheidungen, nicht ums Kleingedruckte. Auch dass im Bundestag und im Bundesrat unterschiedliche Mehrheiten gegeben sind, muss nicht zur Lähmung führen. Es kann den Konsens befördern – wenn denn der Wille da ist, an die Stelle der Ideen- und Mutlosigkeit, die unsere Parteienlandschaft prägt, eine Vision zum Umbau unserer föderalen Ordnung zu setzen und sie gemeinsam zu realisieren.

Ohne Eingriffe in das Grundgesetz ist eine so tiefgreifende Reform nicht zu haben. Welche Eingriffe das sein werden, das zu definieren ist nicht Aufgabe dieses Konzepts. Da wartet schöne Arbeit auf Verfassungsjuristen.

Bei der Arbeit an dieser Reform werden Besitzstanddenken, politische Interessenkonflikte und regionale Widerstände zu überwinden sein. Aber die Anstrengung würde dem föderalen System frische Energien und neue Überzeugungskraft  zuführen - vorausgesetzt, die politischen Parteien suchen nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern den größten gemeinsamen Wurf. Dazu gehört die Bereitschaft, über Parteigrenzen hinweg gemeinsam bei den Bürgern für diese Vision zu werben und die Bürger zu überzeugen. Sonst wird es bei den notwendigen Volksabstimmungen keine Mehrheiten geben. Rücksicht auf lieb-gewordene Befindlichkeiten und Angst vor Partikularinteressen sind keine guten Ratgeber.

Die Geschichte ist voll von guten Beispielen. Robert Schumann hätte 1950 - nur fünf Jahre nach Hitlers Weltkrieg (!) - nicht gemeinsam mit den Deutschen die Montanunion begründen können, wenn er die Befindlichkeiten der überwältigenden Mehrheit der Franzosen zum Maßstab genommen hätte. Er hatte eine Vision, und er hatte die Kraft, seine bei den eigenen Landsleuten höchst unpopuläre Vision zu realisieren. Willy Brandt musste seine Ostpolitik gegen erbitterten Widerstand durchsetzen. Auch er hatte eine Vision und den nötigen Mut. Helmut Kohl hätte die deutsche Einheit nicht verwirklichen können, wenn er sich an den Befindlichkeiten von Maggie Thatcher und Francois Mitterand und ihren beiden Völkern orientiert hätte. Wie einst Robert Schumann hatte er eine Vision und die notwendige Führungskraft.

Das vorliegende Konzept ist kein „linkes“ und kein „rechtes“ Konzept – es zielt auf einen parteiübergreifenden Konsens. Es spielt nicht Bund und Länder gegeneinander aus, sondern beschreibt ihre gemeinsame Verantwortung. Es will den Föderalismus nicht schwächen, sondern stärken. Aber es verlangt von Vielen einen Sprung über den Schatten und von Allen die Bereitschaft, Gemeinsinn über Partikularinteressen, Phantasie über ängstliches Beharren und Kühnheit über ein müdes „Weiter so“ zu stellen.

Der demokratische, freiheitliche Staat der Bundesrepublik ist der beste, den wir Deutschen in unserer Geschichte hatten. Er verdient zur Vervollkommnung seiner föderalen Struktur eine große Anstrengung, die nicht aus der Not geboren ist, sondern aus der Freiheit.

Ohne Mut wird es nicht gehen. Es ist an der Zivilgesellschaft, also an uns Bürgern, diesen Mut von unseren gewählten Repräsentanten einzufordern. Die Stiftung Zukunft Berlin legt dieses Konzept zur Reform des föderalen Systems vor, um eine überfällige öffentliche Debatte anstoßen.

Joachim Braun

Zur Startseite