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Update

Landesparteitag: Piratenchef Semken: "Ich habe ziemlich ins Klo gegriffen"

Der frisch gewählte Vorsitzender der Berliner Piraten, Hartmut Semken, bittet nach seiner Kritik die Abgeordnetenhausfraktion um Entschuldigung. Nun reagieren die Parlamentarier.

Eine offizielle Entschuldigung auf großer Bühne nach rund 24 Stunden im Amt: Zu diesem Mittel hat am Sonntag der frisch gewählte Landesvorsitzende der Berliner Piratenpartei, Hartmut Semken, gegriffen. "Ich habe da gestern ziemlich ins Klo gegriffen und möchte mich dafür bei den Abgeordneten, der Dame und den Herren, wirklich entschuldigen", sagte er vor den auf dem Landesparteitag versammelten Piraten.

Im Interview mit Tagesspiegel.de hatte Semken sich kritisch zur bisherigen Arbeit der Abgeordnetenhausfraktion geäußert: "Da fallen mir jede Menge Bemerkungen ein, aber die sind alle nicht zitierfähig. Ich kann sagen: Ich bin nicht begeistert, aber es ist in Ordnung."

Am Sonntag trat Semken den Rückzug an. Er sagte gegenüber dem Parteitag: "Das war gestern so richtig daneben, ich gelobe Besserung." Auch sagte Semken: "Ich hatte zwar gehofft, dass es ein bisschen länger dauert, bis der erste gravierende Fehler passiert. So habe ich vielleicht einen neuen Rekord aufgestellt." Trotz seines Fehlers traue er sich sein neues Amt zu und habe sich über seine Wahl sehr gefreut. Nach der Erklärung spendete das Plenum Semken verhaltenen Applaus.

Der Parteitag, der am Sonntag zu Ende ging, war der erste seit dem Einzug in das Abgeordnetenhaus; es standen vor allem Personalentscheidungen an. Am Sonnabend hatte der bisherige Vorsitzende, Gerhard Anger, überraschend seine Kandidatur für eine Wiederwahl zurückgezogen, die Mitglieder wählte daraufhin Semken. Anger hatte seinen Rückzug damit begründet, er ertrage die emotionale Belastung durch das Amt nicht länger.

Der Parteitag besetzte den fünfköpfigen Vorstand komplett neu und lehnte einen Antrag ab, dessen Amtsperiode von einem auf zwei Jahre zu verlängern. Von vielen Piraten wurde dies als Beleg dafür gewertet, dass es in der Partei nach wie vor keine erstarrten Strukturen gebe.

Am Sonntag stand dann die Wahl eines neuen Schiedsgerichts an – sie war ungewöhnlich brisant angesichts einer Affäre um Vorwürfe der Datenspionage und Nötigung gegen einen Jugendlichen. Das Gericht wird Parteiausschlussverfahren gegen beide Hauptkontrahenten führen müssen, Befangenheitsvorwürfe gegenüber Kandidaten standen im Raum, und es brauchte drei Wahlgänge, um alle Posten zu besetzen. Zu persönlichen, unsachlichen Auseinandersetzungen auf offener Bühne, die manche im Vorfeld befürchtet hatten, kam es aber nicht. Auch eine Aussprache zur Arbeit der Fraktion wurde von vielen als konstruktiv gewertet.

Die Berliner Piraten haben in einer Umfrage zuletzt sogar die Linkspartei hinter sich gelassen, auf rund 2800 hat sich die Mitgliederzahl seit der Abgeordnetenhauswahl mehr als verdoppelt. Nächstes Ziel sind die Landtage in Saarbrücken und Kiel, im Jahr 2013 wartet, so hoffen viele, der Bundestag. Der neue Vorsitzende Semken sieht die Piraten sogar als „Volkspartei im Wartestand“: Schließlich nutzten bereits 76 Prozent der Bundesbürger das Internet.

Inhaltliche Debatten gab es auf dem Parteitag kaum. Für einige Tagesordnungspunkte zu landespolitischen Themen blieb keine Zeit, auch weil eine Debatte zur parteiinternen Diskussions- und Meinungsfindungsplattform „Liquid Feedback“ lange dauerte und teilweise chaotisch verlief. Am Ende fand sich keine ausreichende Mehrheit dafür, eine Klarnamenpflicht einzuführen – im Internet dürfen die Piraten also weiter anonym diskutieren.

Reaktionen der Fraktion auf die Debatte

Auch Mitglieder der Fraktion haben auf die Debatte reagiert. Andreas Baum, Vorsitzender der Fraktion, sagte, es sei nicht hilfreich, diese Form der Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit auszutragen. "Es gibt immer Stellen, die man sich anders wünscht und vorstellt, aber es ist schwierig, das von außen zu beurteilen." Bei Semkens Äußerung habe es sich wohl um eine "unglückliche Formulierung im Eifer des Gefechts" gehandelt. Es werde nun Gespräche zwischen Fraktion und Vorstand geben, die Fraktion sei grundsätzlich an einer guten Zusammenarbeit interessiert.

Sehen Sie hier, mit welchen Pannen die Piraten schon von sich reden machten:

Die Abgeordnete Susanne Graf sagte, die Entschuldigung gehe in Ordnung, denn wer sich entschuldige, dem sei bewusst, dass er einen Fehler gemacht habe. "Wenn die Entschuldigung ernst gemeint ist, warum sollte man sie nicht annehmen?" Die ursprüngliche Aussage, Semken falle eine Menge zur Arbeit der Fraktion ein, das alles sei aber nicht zitierfähig, bewertete Graf als "kritisch". "Man kann das auch diplomatischer ausdrücken."

Am Sonntag erklärte Semken auch gegenüber dem Tagesspiegel noch einmal ausführlich seine Position: "Was mich an der Fraktionsarbeit so gestört hat, ist, dass so viele Dinge so unentspannt gelaufen sind, dass man sich über vieles so aufregen musste." Er sagte, er selbst habe den Lernprozess in Richtung von mehr Gelassenheit "schon etwas weiter vollzogen als mancher im Abgeordnetenhaus". Semken betonte, er halte die Arbeit der Fraktion für "inhaltlich richtig, richtig gut".

Semken sagte, die umstrittenen Passagen seien "ein Fehler" und hätten "Aufregung" erzeugt. "Das wurde als Angriff verstanden, und das hätte ich absehen müssen. Es war aber nicht so gemeint". Er ergänzte: "Man dürfte auf der persönlichen Ebene einfach noch höflicher, noch menschlicher miteinander umgehen. Manche Dinge werden auf eine Weise formuliert, die als Angriff verstanden werden muss. Das bringt Emotionen hinein, die der sachlichen Arbeit schaden."

Semken sagte, er wisse, dass die Fraktion, so wie sie sei, das Potential habe, ihn zu begeistern. "Ich hoffe, dass das noch in meiner Amtszeit als Vorsitzender geschieht."

Der Abgeordnete Simon Kowalewski sagte, er sehe keinen Grund, eine Entschuldigung zu erwarten, denn er fühle sich nicht angegriffen. Kritischer äußerte sich per Twitter der Abgeordnete Alexander Morlang. Er schrieb mit Blick auf die nachgereichten Ausführungen Semkens: "Semken entschuldigt sich und schiebt den nächsten Angriff gleich hinterher". Gegenüber dem Tagesspiegel sagte Morlang: "Die Entschuldigung ist ein erster und guter Schritt. Der nächste Landesvorstand und die Fraktion werden im nächsten Jahr mit Sicherheit gut zusammenarbeiten."

Die Äußerungen des Vorsitzenden hatten parteiintern für Debatten gesorgt. Spät am Sonnabend twitterte Christopher Lauer, Mitglied der Fraktion im Abgeordnetenhaus: "Der administrierende Vorsitzende kackt der Fraktion erst mal schön auf dem Teppich". Auch schrieb er auf Twitter: "Also ich würde es als frisch gewählter Landesvorsitzender ohne Kontakt zur Fraktion und Vorstandserfahrung ruhig angehen lassen". Auch andere Mitglieder und Sympathisanten der Partei diskutieren, unter anderem per Twitter, kritisch, was Semken gesagt hatte.

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