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Christina Emmrich

© Rückeis

Christina Emmrich, Die Linke: "Es fällt mir schwer, zu sagen: Das ist mein Land"

Gibt es 19 Jahre nach der Wende noch einen Ost-West-Konflikt? Lichtenbergs Bürgermeisterin Emmrich spürt ihn noch manchmal.

Sie würde lieber „BRD“ statt Bundesrepublik sagen, die schwarz-rot-goldene Fahne mag sie nicht, mit dem Staat und seinen Einrichtungen will sie sich nicht identifizieren. So beschreibt der Autor Gunnar Hinck in seiner Porträtsammlung über „Eliten in Ostdeutschland“ die Lichtenberger Bürgermeisterin Christina Emmrich (Linke). Bemerkungen über die Bundesrepublik wie ihre Bemühungen um eine bezirksverträgliche Geschichtspolitik haben Emmrich (61) bekannt gemacht. Im Streit um die Hinweistafeln auf das Stasi-Untersuchungsgefängnis stand sie zwischen den Mitarbeitern der Gedenkstätte Hohenschönhausen und den alten Männern in beigen Freizeitwesten, die sich der Stasi verbunden fühlen und die die öffentliche Markierung des Geländes gern verhindert hätten. Die seit 2002 amtierende Bürgermeisterin ist in diesen Konflikten einem demokratischen Prinzip treu geblieben: Sie stritt mit denen, die zum Streit bereit waren. Mit Christina Emmrich sprach Werner van Bebber.

Gibt es inzwischen das Gefühl, Ost- und Westdeutsche, Ost- und Westberliner seien gleichberechtigt?

Es gibt Unterschiede zwischen dem ganzen Land und Berlin. Im Land merke ich, dass man sich nicht gleichberechtigt fühlt. Das zeigt sich an der Rente. In Berlin, so scheint mir, ist das Gefühl von Ungerechtigkeit nicht mehr ganz so ausgeprägt. Am 1. 11. haben wir die Kinder-Uni im Bezirk eröffnet. Zwei Jugendliche haben Vorträge gehalten. Deren Miteinanderumgehen ist ein völlig anderes. Man kann optimistisch sein.

Ist es immer noch so, dass Sie sich mit dem Staat hier nicht identifizieren können?

Es ist schon ein bisschen ambivalent. Dieser zunehmende Gegensatz zwischen arm und reich – ich fühle mich nicht immer wohl damit. Es gibt aber auch Momente im Sport oder bei Kulturereignissen, da ist es anders. Es ist schon mein Land, aber ich möchte nicht, dass es so bleibt, wie es ist. Ich möchte es verändern, hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit.

Was fehlt zum fairen Umgang miteinander?

Viele Gegensätze resultieren daraus, dass Lebenserfahrungen und Lebensleistungen von Ostdeutschen gering geschätzt werden – unabhängig davon, ob sie auch vergütet werden. Es herrscht oft der Eindruck, dass die aus den alten Bundesländern ganz genau wissen, wie es bei uns in der DDR zugegangen ist – ohne dass sie wirklich etwas gewusst haben – und alles global abwerten. Da finden Lebensleistungen keine Berücksichtigung.

Wenn es um die jüngere Geschichte geht, arbeitet es heftig in der Linkspartei. Ist die Partei da weitergekommen – oder gilt das nur für jüngere Leute wie Ihren Landesvorsitzenden Klaus Lederer?

Was spricht gegen solchen Krach, er ist Zeichen dafür, wie wenig wir mit der SED zu tun haben. Ich bin ja auch nicht mehr ganz jung. In Runden mit älteren Mitgliedern gibt es beides – die differenzierte Sicht und das Abblocken. Dann sind „das System und der Klassenfeind“ die einzigen Gründe, dass es die DDR nicht mehr gibt. Aber ich erlebe ganz, ganz wenige, die sich völlig verschließen. Allerdings fällt es Menschen, die über achtzig sind, schwer, Zweifel und Kritik am eigenen Tun zuzulassen.

Gibt es aus Ihrer Sicht etwas Positives, das von der DDR geblieben ist?

Es ist in den vergangenen Jahren vieles auf den Weg gebracht worden, was es in der DDR schon gab. Beispiel Kinderbetreuung. Man kann der Familienministerin von der Leyen nur zustimmen zu dem, was sie versucht. Wir merken nicht ganz so viel davon, weil Lichtenberg einen hohen Ausstattungsgrad hat. Ich war immer der Auffassung, Berufstätigkeit von Frauen sollte selbstverständlich sein. Das ist im öffentlichen Bewusstsein heute etwas stärker ausgeprägt. Oder die Überlegungen, das Schulsystem zu ändern und von der dreigliedrigen Schule wegzukommen. Die Ganztagsschule mit der Hortbetreuung. Die Polikliniken, die jetzt Ärztehäuser heißen. In Brandenburg sollen wieder Gemeindeschwestern auf dem flachen Land bei der medizinischen Betreuung mithelfen. Ohne nun immer zu sagen: Das ist von der DDR geblieben, hat sich einiges als nützlich für die Gesellschaft erwiesen, das es in der DDR schon gab.

Ist die Bundesrepublik ein sozialer Staat?

Tja… Verglichen mit den USA oder mit afrikanischen Ländern – ja. Wenn ich mir aber ansehe, wie groß die Differenzierung in der Gesellschaft ist – da gibt es bei uns schon Nachholbedarf. Der Geldbeutel der Eltern entscheidet oft nicht nur über die Schule, sondern auch über die Freizeitmöglichkeiten, die man sich leisten kann, von der Musikschule bis zu Sportvereinen. Da könnte schon ein Schrittchen zugelegt werden.

War die DDR im Hinblick auf die Kinder gerechter?

Ja. Weil nicht das Geld der Eltern entscheidend war. Wenn ich mich richtig erinnere, fuhren Kinder für 20 Mark zwei Wochen lang in ein Ferienlager. Mit Vollverpflegung. Da ist jedes Kind in den Ferien mal verreist. Heute nimmt es zu, dass Kinder gar nicht mehr reisen oder nur mit Hilfe von Spenden in Ferien fahren können. Da war die DDR gerechter.

Abgesehen von denen etwa, die sich zur Kirche bekannten und Abstand vom Staat gehalten haben. Für die war es schwerer.

Ja. Ich will nicht sagen: Das war nicht so. Aber ich wundere mich: Viele sagen, sie seien gehandicapt gewesen – und haben trotzdem studiert und promoviert. Ich will gar nicht auf die Bundeskanzlerin anspielen. Was die Kinder anbelangt, da haben Kirchenkreise vieles organisiert, so dass diese Kinder nicht ausgeschlossen waren. Dass es in der Schule schwieriger war, ist oft gesagt worden. Das muss ich zur Kenntnis nehmen, ohne zu sagen: Die spinnen alle. Schlimm genug, dass manche diese Erfahrungen gemacht haben.

Sie sprachen schon von Angela Merkel: Ist an ihr noch etwas typisch ostdeutsch?

Ich hab' mit ihrer Politik nicht viel am Hut. Aber ihren Job macht sie gut. Vielleicht hat es damit zu tun, dass die DDR-Frauen etwas anders groß geworden sind.

Hat die Finanzkrise Sie überrascht?

Ja, schon. Es gibt ja welche, die fast gebetsmühlenartig darauf hingewiesen haben, dass es so kommen wird. Aber dass die Krise in dieser Größenordnung zuschlagen würde, hätte ich nicht für möglich gehalten.

Sagen Ihnen die Leute jetzt: Das haben wir doch geahnt?

Nicht so sehr. Natürlich haben Leute, die sich ein Haus auf Kredit angeschafft haben, Riesensorgen. Viele haben gar nicht mitgekriegt, wie oft ihr Kredit verkauft worden ist. Wir haben hier in der Lückstraße Häuser, die abzureißen wären. Immer wenn wir den Eigentümer identifiziert hatten, stellte sich heraus, dass der gewechselt hatte. Da ist mir bewusst geworden, dass man auch mit Ruinen Geld machen kann.

Wie kann man die Leute erreichen, die es in Lichtenberg in größerer Zahl gibt – diejenigen, die dem System und dem Sicherheitsapparat der DDR nahestanden?

Ich erlebe viele, die sich sehr engagieren, in Kiezbeiräten, Bürgervereinen, Sportvereinen. Dann gibt es andere, die noch immer wissen, wie die Welt ist, wie sie war und wahrscheinlich, wie sie sein wird. Ich versuche, mit ihnen zu diskutieren. Ich bin das ein oder andere Mal angeeckt. Als ich mit Frau Birthler die Gedenktafel an der Normannenstraße eröffnet habe, habe ich mir nicht nur Freunde gemacht. Als ich mit Walter Momper den Stein für die Opfer des Stalinismus auf dem Friedhof Friedrichsfelde eingeweiht habe, gingen wieder Diskussionen los. Ich suche das Gespräch – aber wenn einer nicht will, dann lasse ich es. Dann überzeugen die Argumente nicht, die ich habe, um deutlich zu machen, dass wir allen Grund haben, in uns zu gehen und zu überlegen, welche demokratischen Defizite es in der DDR gab.

Empfanden Sie die DDR als Diktatur?

Ich angesichts meiner damaligen Arbeit natürlich nicht, aber es gab die Selbstbestimmung von der Diktatur des Proletariats. Was – aus meiner heutigen Sicht – einen Weg nahm, bei dem nur noch die Partei das Sagen hatte. Und das war für viele diktatorisch.

Können Sie sich vorstellen, irgendwo im Westen der Republik zu leben?

Ich wäre sogar neugierig, muss ich sagen. Es gibt eins, worum ich die jungen Leute richtig beneide: Dass man so einfach los kann. Wenn ich jetzt 20 oder 21 wäre, würde ich losmachen und ein Jahr ins Ausland gehen.

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