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Pro & Contra: Ist der Fraktionswechsel Verrat am Wähler?

Der FDP-Abgeordnete Rainer-Michael Lehmann will zur SPD übertreten Jetzt wird über die Mandatsmitnahme diskutiert. Ist der Fraktionswechsel Verrat am Wähler?

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Keine Partei ist dagegen immun. CDU und SPD, Grüne, Linke und FDP müssen es auch in Berlin erleiden, dass Abgeordnete die Partei und Parlamentsfraktion verlassen und sich dem politischen Gegner anschließen. Solche Überläufer werden stets mit der Forderung konfrontiert, ihr Mandat niederzulegen. Jüngster Fall ist der Ex-Liberale Rainer-Michael Lehmann, der zu den Sozialdemokraten geht.

Wäre der FDP-Mann Volksvertreter in Südkorea, Lettland oder der Ukraine, wäre er seinen Parlamentssitz jetzt los. Es gibt nun mal Länder, in denen es üblich war oder ist, dass sich Parteien gegenseitig die Abgeordneten „abkaufen“, um Regierungen zu stürzen oder zu stabilisieren. Ein gesetzlich verankerter Mandatsentzug soll das verhindern.

In Deutschland ist der Fraktionswechsel eher eine Ausnahmeerscheinung, sieht man von den Nachkriegsjahren ab, in denen dutzende Parlamentarier aus konservativen Klein- oder Regionalparteien ins Sammelbecken der Union strömten. Das freie Mandat ist in Bund und Ländern durchs Grundgesetz geschützt. Egal, ob es im Wahlkreis oder über eine Parteiliste errungen wurde. So geht die Forderung an abtrünnige Abgeordnete, das Mandat zurückzugeben, ins Leere.

Das weiß auch der Berliner CDURechtsexperte Michael Braun, der einen anderen Vorschlag hat. Er will eine freiwillige Vereinbarung zwischen Parteien und Fraktionen, den Wechsel von Abgeordneten während einer Legislaturperiode auszuschließen. Es gehöre zur Gewissensfreiheit jedes Abgeordneten, sich politisch anders zu orientieren, doch eine Wartezeit sei ihm dann zumutbar. Schon um den Eindruck zu verhindern, „dass sachfremde und nicht uneigennützige Motive“ ausschlaggebend seien, sagte Braun. Schließlich hätten ihn die Partei, die er verlassen wolle, und deren Wähler mit einem Mandat versehen.

Damit hebt der CDU-Mann die starke Bindung der Abgeordneten an ihre Partei hervor. Und die besondere Rolle der Parteien für die „politische Willensbildung des Volkes“ (Artikel 21 Grundgesetz). In Konkurrenz dazu steht das urliberale Ideal des Abgeordneten als „Vertreter des ganzen Volkes“, der an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen ist (Artikel 38 Grundgesetz). Das Bundesverfassungsgericht spricht zwar vom „Spannungsverhältnis“ zwischen beiden Prinzipien, zeigt aber unbedingten Respekt vor dem freien Mandat. Mit einer Ausnahme: Abgeordnete verlieren den Parlamentssitz, wenn ihre Partei verboten wird.

Fraktionswechsler betrifft das nicht. In Berlin zog es in der laufenden Wahlperiode immerhin drei Abgeordnete zur SPD, und zwar von den Linken (Carl Wechselberg), Grünen (Bilkay Öney) und der FDP (Rainer-Michael Lehmann). Die SPD-Abgeordnete Canan Bayram ging zu den Grünen. In den vorhergehenden Wahlperioden seit 2001 gab es nur zwei Übertritte: Der FDP-Abgeordnete Martin Matz wurde 2004 Sozialdemokrat und der CDU-Abgeordnete Matthias Andrea wechselte 2001 zur FDP, die sich damals besonders freute, weil sie seit 1995 im Parlament nicht mehr vertreten war.

Ist der Fraktionswechsel Verrat am Wähler?

PRO
Wann wurde in Berlin je ein Politiker gewählt, der nicht für eine Partei, sondern als Einzelkämpfer angetreten war? Sie können sich nicht erinnern? Eben: Politiker werden bei uns in der Regel nicht deswegen gewählt, weil wir sie persönlich so herausragend finden. Sondern als Vertreter einer Partei, mit deren Zielen sie sich im Wahlkampf identifizieren. Gebe ich einem Kandidaten meine Stimme, weil er meine Lieblingspartei repräsentiert, dann darf ich von ihm verlangen, dass er seine persönlichen Interessen in den Dienst der von mir gewählten Sache stellt. Das heißt nicht, dass er der Parteilinie immer bedingungslos folgen muss. Er ist laut Verfassung nur zwei Dingen verpflichtet: Seinem Gewissen – und dem Wählerwillen. Drängt ihn sein Gewissen, der Partei zu widersprechen, dann soll er das tun. Aber er darf nicht vergessen, dass er zugleich uns Wählern gegenüber dazu verpflichtet ist, für die politische Gruppe zu stehen, die mit unseren Stimmen ins Parlament gekommen ist. Sollte eine Partei wirklich einmal alle Ziele verraten, für die sie einst stand, wäre das etwas anderes. Aber von der FDP, die Rainer-Michael Lehmann jetzt verließ, kann man nicht behaupten, dass nicht schon seit langem bekannt ist, wofür sie steht. Wer das erst nach jahrelanger Abgeordnetenarbeit zu entdecken behauptet, betrügt sich selbst und seine Wähler. Er sollte zurücktreten. Lars von Törne

CONTRA
Verrat? Humbug. Die Wahl eines Abgeordneten hat nichts mit Freundschaft, Liebe, der Verpflichtung zur Agententätigkeit oder einer anderen Art von Beziehung zu tun, in der moralische Kategorien etwas bedeuten. Man verrät den Freund, der einem vertraut, in dem man sein Geheimnis öffentlich macht oder seine von ihm geliebte Frau verführt. Selbstverständlich will man als Bürger dem Abgeordneten vertrauen können, den man wählt – in dem Sinn, dass er ein einigermaßen anständiger Mensch ist, der seine Worte ernst meint. Er soll mit der Gewissensfreiheit, die ihm die Verfassung garantiert, etwas anfangen können. Die Gewissensfreiheit zielt nicht auf Sachfragen. Sie zielt auf das Verständnis der Grundrechte und der – Pardon für das Pathos – freiheitlich demokratischen Grundordnung. Abgeordnete sollen, wenn der Druck auf sie groß ist, sich auf die Gewissensfreiheit zurückziehen können wie in eine Bastion: Ihr könnt mir mit dem Karriereende drohen oder mit dem Entzug irgendwelcher Ämter – aber ihr könnt mich nicht zwingen. Das ist der Sinn der Freiheit eines Abgeordneten – unterhalb der alltäglichen Politik, in der Fraktionen funktionieren müssen und Parteien repräsentiert werden wollen. Fraktionszwang statt Freiheit? Das macht den Abgeordneten zum Objekt der Politkommissare und Autokraten, die sich gern als Moralisten verkleiden. Werner van Bebber

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