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Berlin: Staatsmann und Weltbürger

Vor 50 Jahren wurde Willy Brandt Regierender Bürgermeister. Hier entstand seine Entspannungspolitik

Als der Regierende Bürgermeister Otto Suhr am 30. August 1957 starb, war Willy Brandt sein natürlicher Nachfolger. Brandt, damals Präsident des Abgeordnetenhauses, war während der langen Krankheit Suhrs in den Augen der Berliner zum führenden politischen Repräsentanten der Stadt geworden, und so setzte er sich gegen Widerstände der SPD-Linken, der „Keulenriege“ um den Landesvorsitzenden Franz Neumann, durch. Das ist nun 50 Jahre her. Am 3. Oktober 1957 wurde er vom Abgeordnetenhaus zum Regierenden Bürgermeister gewählt, knapp 45 Jahre alt. All das, worauf er hingearbeitet hat, erfüllte sich am Tag der Einheit, am 3. Oktober 1990.

Brandt und Berlin: Das war eine Schicksalsgemeinschaft, die sich eins wusste im Überlebenskampf in Freiheit und später in der Politik der kleinen Schritte, um die Mauer durchlässig zu machen auf dem Weg zum großen Ziel ihrer Überwindung. Ein zentraler Punkt für Brandts Weg an die Spitze der Stadt war sein besonnenes, souveränes Verhalten am 5. November 1956. Nach einer Protestkundgebung vor dem Schöneberger Rathaus gegen die blutige Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn, bei der Brandt sprach, machten sich Tausende auf zum Brandenburger Tor. Er griff ein, um blutige Zwischenfälle mit dem Osten zu verhindern, indem er sich an die Spitze der Bewegung setzte und vor einem „schrecklichen Unglück“ warnte. Er stimmte das Lied vom guten Kameraden zu Ehren der ungarischen Opfer an und dann am sowjetischen Ehrenmal die Nationalhymne. So lenkte er die Volkswut in friedliche Bahnen. Die Herzen flogen ihm zu.

Doch auf Brandt warteten noch ganz andere Bewährungsproben. „Wir sind hier nicht vom Schlage derer, die sich durch einen Windstoß umwerfen lassen“, war Ende November 1958 seine erste Reaktion auf das Chruschtschow- Ultimatum. Der sowjetische Partei- und Regierungschef wollte West-Berlin zu einer „Freien Stadt“ machen und forderte den Abzug der Westalliierten binnen sechs Monaten.

Die Berliner verstanden „unseren Willy“. Bei der Abgeordnetenhauswahl im Dezember erhielt die SPD, Brandt hatte inzwischen den Landesvorsitz erobert, 52,6 Prozent der Stimmen, doch setzte Brandt klug die Große Koalition fort. Es war ausnahmsweise eine Wahlperiode ohne Opposition, denn nur SPD und CDU waren im Parlament vertreten.

Brandt wurde zum allseits bekannten Botschafter Berlins. Die Bundesregierung schickte ihn auf eine Weltreise; er warb in Amerika, Asien und Europa für das bedrängte Berlin. Ungeachtet seiner Distanz zur Adenauer-Politik als SPD- Mann war er der Sachwalter der Interessen Berlins, und das hieß: feste Verankerung im Westen, Rechtseinheit mit dem Bund, Sicherung der Lebensfähigkeit der Stadt. Es gab Probleme bis hin zum Ärger über den Abbau der Brotsubvention.

Dann kam die Zäsur des Mauerbaus am 13. August 1961. Die ganze Stadt fiel in Depression. Brandt fühlte sich ebenso verlassen wie die Berliner. Jetzt reifte die Erkenntnis, dass der Ruf: Die Mauer muss weg! nichts änderte. In auswegloser Lage konzipierte er im Schöneberger Rathaus seine Politik der kleinen Schritte. Hier legte er mit seinen politischen Getreuen Egon Bahr, Klaus Schütz, Heinrich Albertz und Dietrich Spangenberg die Grundlagen für die Entspannungspolitik. „Wandel durch Annäherung“ lautete die von Bahr geprägte Formel, die auf Proteste der Konservativen stieß, weil sie die Realisierung der Drei-Staaten-Theorie durch die Hintertür befürchteten. Die Berliner scherten sich nicht darum. Das erste Passierscheinabkommen „mit der anderen Seite“ bewirkte über Weihnachten und Neujahr 1963/64 rund 1,2 Millionen Besuche von West-Berlinern in Ost-Berlin; es war ein herzergreifendes Wiedersehen.

Der Wunsch nach Wiedervereinigung konnte für Brandt kein Ersatz für die praktische Politik „menschlicher Erleichterungen“ sein. Die Berliner Jahre machten ihn zum Pragmatiker. Im amerikanischen Präsidenten Kennedy hatte er nach der Kuba-Krise, die die Welt an den Abgrund des Krieges brachte, den entscheidenden Verbündeten, und die dankbaren Berliner bereiteten Kennedy am 26. Juni 1963 einen triumphalen Empfang.

Da führte Brandt schon einen SPD/FDP-Senat. Bei der Wahl 1963 hatte er für die SPD 61,9 Prozent der Stimmen geholt, ein einmaliger Vertrauensbeweis. Im Wahlkampf war das Verhältnis zur CDU zerbrochen; Brandt hatte nach Protesten der CDU auf ein Treffen mit Chruschtschow in Ost-Berlin verzichtet, er wollte keinen Alleingang.

Die Entspannungspolitik aber war nicht aufzuhalten. Das Konzept war fertig, ja in Berlin schon erprobt, als Willy Brandt Ende 1966 zum Bundesaußenminister unter Kurt Georg Kiesinger (CDU) und 1969 selbst zum Bundeskanzler aufstieg. Nach seinem Tod am 8. Oktober 1992 kehrte er zurück in die Stadt, von der seine Politik geprägt war. Nichts als der Name erinnert an seinem Grab auf dem Zehlendorfer Waldfriedhof an einen Staatsmann und Weltbürger von historischem Rang.

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