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Porträtfoto der damals 27-jährigen Gisela Jacobius in Berlin.

© privat

Leben als Jüdin während der Nazi-Zeit: Zwischen Leben und Überleben

Mit 19 Jahren muss Gisela Jacobius ihr Leben aufgeben und sich vor den Nazis verstecken. Nach dem Krieg arbeitet die Jüdin in einem Lager in Moskau, sucht Frieden in Israel. Stationen eines Lebens.

Berlin, 1942. In den Kinos läuft der Film „Wir machen Musik“. Gisela war lange nicht mehr im Kino, alle Veranstaltungen, die nicht vom Jüdischen Kulturbund ausgerichtet werden, sind ihr verboten. Doch Gisela ist 19 Jahre alt, sie will leben, und weil es zum Leben manchmal dazugehört, sich einen unnützen Film anzuschauen, trennt sie den gelben Stern von ihrem Mantel.

Während auf der Leinwand „Mein Herz hat heut Premiere“ geträllert wird, klopft Gisela das Herz bis zum Hals. Nicht, weil der Hauptdarsteller so schön ist, sondern weil eine Razzia ihr Todesurteil wäre.

Diese Angst wird sie lange nicht mehr loslassen: Nachdem alle Auswanderungsversuche gescheitert sind und die Großmutter abtransportiert wurde, beschließen Giselas Eltern, mit der Tochter in den Untergrund zu gehen. Am 9. Januar 1943 ist es soweit.

„Ich glaube mich zu erinnern, dass es an diesem Tag Erbsensuppe bei uns gab“, erzählt sie später in ihren Erinnerungen. „Und am Abend sind wir dann aus dem Haus gegangen. Wohnungstür zu. Weg! Die Existenz aufzugeben, wegzugehen ...“

Die Wege der Drei trennen sich noch am selben Abend. Damit sie sich im Fall von Verhör und Folter nicht an die Nazis verraten können, lassen sie sich in den kommenden zwei Jahren keine Lebenszeichen und keine Informationen über den jeweiligen Aufenthaltsort zukommen.

Die Verstecke, die ihr meist über Bekannte der Eltern vermittelt werden, muss Gisela häufig wechseln. Mehr als einmal flüchtet sie vor männlichen Beschützern, die ihr nicht nur helfen wollen. Sehr hübsch ist sie mit ihrem gelockten Haar und den großen, blauen Augen unter den dunklen Brauen.

Doch kann die Schönheit auch hilfreich sein. Wie an diesem Sommertag in Möllensee, wo sie als Haushaltshilfe in dem Privathaus einer Geschäftsfrau untergekommen ist. Eine Milchkanne am Fahrradlenker, das Enkelkind der Geschäftsfrau auf dem Gepäckträger, radelt sie geradewegs in die Passkontrolle. Gisela besitzt nichts als das nackte Leben, gefälschte Papiere sind zu teuer. „Sag ich: ,Sie haben mir gerade noch gefehlt! Sie sehen, ich hab hier das Kind, und ich hab die Milch, und jetzt wollen Sie den Ausweis. Wo soll ich das denn hinstecken? Ich hab andere Dinge im Kopf als jetzt an den Ausweis zu denken!‘ Nun waren das aber sehr junge Burschen, und da wirkt natürlich ein junges Mädel. Wenn ich heute als alte Frau da ankäme, da sind die dann ganz anders.“

Über ein Jahr lebt sie in Möllensee, in Sicherheit vor den Luftangriffen und vor den Nazis. Bis ein junger Mann der Frau, bei der Gisela lebt, aus persönlichen Gründen eins auswischen will. Er meldet, dass die Dame ein Mädchen beschäftige, das wahrscheinlich nicht beim Arbeitsdienst gemeldet sei. Kurze Zeit später wird Gisela, die gerade von ein paar Besorgungen zurückkehrt, von zwei aufgeregten Nachbarkindern begrüßt: „Zwei Männer waren hier und haben gefragt, ob du auch artig bist!“ „Ob ich arisch sei, war gemeint“, erzählt sie später. „Ich bin noch am selben Abend dort weg.“

Das Warten auf Gerechtigkeit ist erschöpfender als der Hunger

Der feige Gang des jungen Mannes zur Gauleitung hätte Gisela beinahe das Leben gekostet und katapultiert sie zurück in die Hölle von Berlin. Immerhin findet sie hier ihre Eltern wieder.

Die letzten Kriegsmonate überleben die drei dank der Schwedischen Kirche, die ihnen Obdach gibt. Sie bekommen auch Papiere, die sie als Schweden ausweisen.

Dann hören sie russische Stimmen. Der Krieg ist zu Ende.

Aufatmen? Das Überleben wieder gegen ein Leben tauschen? Ein Pfarrer rät: „Bleiben Sie Schweden, bis die Kampftruppen abgezogen werden. Dann können Sie Ihre wahre Identität preisgeben.“

So folgen sie der Anweisung, sich in einer Sammelstelle für Menschen unterschiedlichster Nationalitäten einzufinden. „Ich weiß nicht mehr, wie es genau war, es ging alles so drunter und drüber! Bis dann plötzlich ein russischer Kommandant uns gesagt hat, wir würden in die Heimatländer kommen – und das ginge nur über Moskau. Und dann sind wir verladen worden in einen Zug.“

Obwohl der Krieg offiziell zu Ende ist, lebt die kleine jüdische Familie weiter in Angst und Ungewissheit. Sie wird in ein Lager bei Moskau gebracht. „Was sollten wir jetzt auf dieser schwedischen Masche weiter herumreiten? Wir mussten sagen, wir haben die Papiere zum Schutz bekommen, als Juden.“ Für diese Aussage ernten sie Misstrauen und Strafe. Ob sie wüssten, wie viele Nazis plötzlich behaupteten, Juden zu sein? Gisela soll sich in einem Brief an „Generalissimus Stalin“ für das Reisen mit falschen Papieren entschuldigen.

Gisela Jacobius 1946 in Berlin nach der Zeit in den russischen Lagern.
Gisela Jacobius 1946 in Berlin nach der Zeit in den russischen Lagern.

© privat

Das Warten auf Gerechtigkeit ist erschöpfender als der Hunger. Gisela, inzwischen in ein „Deutschenlager“ verlegt, kniet gerade über alten Metallsträngen, aus denen sie Nägel herstellen soll, als ein deutschsprachiger Major sie zu mehr Tempo mahnt. „Ich war kein SS-Liebchen und hab mir meine Befreiung anders vorgestellt, als dass ich jetzt hier bei Ihnen sitzen und eine Norm erfüllen soll!“, platzt es aus ihr heraus. Statt ihr zu drohen murmelt der Major: „Na ja, nun, dann arbeiten Sie nicht so viel.“ Dann sorgt er dafür, dass ein Kreuzverhör einberufen wird, das die Entlassung bringen soll. „Und da guckt einer, der jiddisch konnte, mich so abschätzend an und sagt: ,Sagen Sie, Sie behaupten, Sie sind Jüdin.‘ Sag ich: ,Ja.‘ Und da sagt er: ,Emmes?‘ Und ich hab geantwortet: ,Emmes!‘ Das heißt so viel wie: Ist das die Wahrheit? … Das war für mich eine solche Genugtuung, dass wir aus dem Lager rausgefahren worden sind! Und im Grunde genommen hab ich gedacht: Ja, die alten Nazis, die können da noch sitzen!“

Im Spätsommer 1946 finden sie sich wieder in Berlin ein. Der Vater ist in einem der Zwischenlager an Cholera erkrankt, die Mutter an Diphterie. Sie stirbt 1948, im Jahr der Staatsgründung Israels. Angesteckt von der Euphorie der jüngeren jüdischen Überlebenden, überredet Gisela ihren Vater, der nach Amerika möchte, nach Israel auszuwandern.

Die Suche nach Frieden treibt sie noch einmal fort, weiter, weg aus dem Land, in dem die Nazis regierten. „Da lernte ich dann auf der Reise meinen späteren Mann kennen. Er war der Transportleiter, ein junger, umsichtiger Mann.“

"So was wie der wäre früher vergast worden."

In Akko bezieht das junge Paar eine Einzimmerwohnung. Gisela arbeitet als Haushaltshilfe, ihr Mann als Ausfahrer für eine Bäckerei. Doch das Klima strengt sie an, es fehlt ihr an körperlicher Kraft, sie wird krank. Nach vier Jahren in Israel beschließen die beiden, zurückzukehren in die Geburtsstadt.

Gisela Jacobius 1949 in Akko, Israel. Dort arbeitet sie als Haushaltshilfe, ihr Mann als Ausfahrer für eine Bäckerei.
Gisela Jacobius 1949 in Akko, Israel. Dort arbeitet sie als Haushaltshilfe, ihr Mann als Ausfahrer für eine Bäckerei.

© privat

Nun endlich beginnt für Gisela das so lang ersehnte, ruhige Leben. 1958 bringt sie einen Sohn zur Welt. Er soll unbeschwert leben, das ist ihr größter Wunsch. Wer sie jetzt kennenlernt, trifft auf eine bescheidene, freundliche Frau. Über die Vergangenheit spricht sie kaum.

Doch gibt es Menschen wie diese Mutter, die beim Anblick wild spielender Kinder meint: „Das geht ja hier zu wie auf einer Judenschule.“ Oder die Geschichtslehrerin, die zu anderen Schülern über Giselas Sohn sagt: „So was wie der wäre früher vergast worden.“ Gisela geht zum Direktor, erzwingt eine Entschuldigung.

Es bleibt in ihr eine leise Reserviertheit gegenüber Deutschen ihrer Generation. Den Nachgeborenen aber zeigt sie sich offen und herzlich. Nur die Tätowierungen, die diese im Sommer so stolz zur Schau stellen, lassen sie schaudern. Sie muss dann an ihre Schulfreundin denken, die auf dem Arm eine KZ-Nummer trägt, und an ihre Großmutter, die sie nie wieder gesehen hat.

Gisela Jacobius 2003 auf ihrem Balkon in Berlin Lichterfelde.
Gisela Jacobius 2003 auf ihrem Balkon in Berlin Lichterfelde.

© privat

Zum Ende hin kommt noch einmal Bewegung in ihr ruhiges Leben: Giselas Jugendfreund Horst Prentki, einst erster Klarinettist im Orchester des Jüdischen Kulturbundes, ist 1990 zu Besuch in Berlin. Die Freude ist riesig. Nie wieder soll „Hotti“, der 1940 nach Montevideo ausgewandert ist, aus ihrem Leben verschwinden! Damit er regelmäßig wiederkommen kann, versucht sich die fast Siebzigjährige als Konzertmanagerin und organisiert dem Musiker Auftritte in Berlin. Auf manchen Veranstaltungen erzählt er aus seinem Leben. Unversehens redet Gisela mit. Sie beginnt, als Zeitzeugin herumzureisen.

„Es hieß: ,Ihr habt kein Recht mehr, zu leben!‘ Es ist sehr schwer, jungen Menschen eine solche Situation begreifbar zu machen.“

Sie wurde beerdigt auf dem Jüdischen Friedhof am Scholzplatz. Die Trauerrede hielt ein evangelischer Pfarrer, mit dem sie sich bei der Zeitzeugen-Arbeit angefreundet hatte.

Die Erinnerungen sind in dem Interview-Buch "Gisela Jacobius - als Jüdin in Berlin" von Magrit Delius erschienen, Verlag Hentrich & Hentrich, 168 Seiten, 21,80 Euro.

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