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Unsichtbare Töne in der Symphonie der Großstadt.

© Luca Kolenda

Leben in Berlin: Aus dem Takt geraten?

Obdachlose gehören zu Berlin. In der S-Bahn, auf der Straße, vor dem Bahnhof. Wir sehen und ignorieren sie - warum eigentlich?

Es ist, als würde die Stadt mit ihren Menschen ein Lied spielen, in einem geregelten Takt und mit festgelegten Tonarten. Doch was passiert, wenn sich jemand nicht an die Noten hält? Zwei Variationen

Adenauerplatz. Ein Mann mit kaputten Schuhen und langem Bart liegt still und bewegungslos auf dem Bürgersteig. Er hat zu viel Heroin genommen und braucht einen Krankenwagen. Die Stadt rauscht und schnattert vorbei. Keiner beachtet das Ritardando seines Herzschlags, das Decrescendo seiner Lebenskraft. Kein Blick, kein Wort. Es ist, als gäbe es ihn nicht. Einige Straßen weiter schlürfen Damen und Herren in Pelzmäntel gehüllt Kaffee aus barock anmutenden Porzellantässchen. Gedämpfte Gesprächsfetzen vibrieren durch die Luft, und nirgendwo ist das Kreischen eines Krankenwagens zu hören, das die scheinbare Harmonie zerreißen könnte.

"Furchtbar, asozial, was wollen die hier?"

Ringbahn S41. Ein Mann mit müden Augen und roten, gefrorenen Händen schlurft durch den Waggon und klappert um eine Spende bittend mit Münzen in einem zerdrückten Kaffeebecher aus Pappe. Er schleicht und murmelt vorbei. Kein Blick, kein Wort. Es ist, als gäbe es ihn nicht. Einige Sekunden später flötet eine Frau mit Sopranstimme und blond gefärbten Haaren: „Et jibt doch so viel Arbeit. Dit kann mir keener erzählen, dit der keene Arbeit findet.“ Ihr Sitznachbar in dunkler Windjacke schließt sich zwei Oktaven tiefer und in bellendem Staccato an: „Ja! Und wenn ich mit meinen Kindern unterwegs bin, und dann kommen die und reden hier so asozial – furchtbar finde ich das!“ Die Intonation dieser Worte hinterlässt einen schrillen Nachhall, während das Schlurfen des Mannes längst verklungen ist.

Es ist, als würde die Stadt mit ihren Menschen ein Lied spielen, in einem geregelten Takt und mit festgelegten Tonarten. Manche Menschen haben ihren Einsatz verpasst, ein Vorzeichen vergessen oder konnten den Dirigenten nicht sehen. Jetzt finden sie Takt oder Tonart nicht mehr wieder. Aber niemand von uns zeigt ihnen, wo es weitergeht. Jeder sieht nur auf die eigenen Noten, möchte sich nicht stören lassen. Wir haben ja schließlich selbst zu spielen und was können wir schon dafür…

Wir wollen auch gar nicht wissen, warum manche den Takt verloren haben. Und ihre Stimme haben wir schon aus der Partitur gestrichen. Jetzt ist es, als gäbe es sie nicht.

Dabei gibt es sie eben doch. Und wer hat eigentlich festgelegt, dass wir genau dieses Lied spielen? Wie kann es in diesem Lied eine Harmonie geben, wenn wir musizieren ohne alle teilhaben zu lassen?

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Henriette Teske

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