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Fuß fassen auf einem steinigen Weg.

© Henrik Nürnberger

Lebensgeschichte von Marcel Labs: Vom Sonderschüler zum Abiturienten

Dass Marcel, der Junge mit dem Sprachfehler, heute vor dem Abitur steht, hätte zu Beginn seiner Schullaufbahn niemand geglaubt. Im Jugendblog erzählt er uns von seinem außergewöhnlichen Lebensweg, den er heute zum Beispiel nimmt, um für mehr Inklusion zu werben. 

Bereits im Kindergarten wurde mir bewusst, dass ich anders bin. Ich wurde von allen gehänselt, als "Riesenbaby" verspottet oder konnte mir Sprüche wie "Kauf dir mal eine Tüte Deutsch!" anhören. Denn nur sehr schlecht konnte man mich aufgrund meines Sprachfehlers verstehen. Die Erzieher waren mit mir überfordert, ich durfte nicht mit in die Puppenstube, wo ich eigentlich immer rein wollte. Insgesamt habe ich vier Mal den Kindergarten gewechselt. Ich hatte damals keine Freunde im Kindergarten, war auf mich allein gestellt.

Verlorene Schuljahre

Meine Mutter war mit mir an verschiedenen Schulen. Keine davon hat mich angenommen. So blieb mir nur die Einschulung auf eine Sonderschule für Schwererziehbare in Duisburg-Walsum. Da ich als Einziger hier eingeschult wurde, kam ich fataler Weise sofort in die dritte Klasse. Jeder Schüler war zwei Jahre älter als ich und vom Bildungsniveau mir dementsprechend voraus. Ich konnte nicht lesen, schreiben - und leider hat man mich akustisch kaum verstanden. In dem Zeitraum war ich bei einer Logopädin, denn noch dazu habe ich Wörter verwechselt. Zum Beispiel die Wörter „Kirsche“ und „Kirche“. Erst die zweite Logopädin, bei der ich noch heute bin, konnte mir wirklich helfen.

Nach dem Unterricht ging ich in eine heilpädagogische Tagesgruppe. Die Erzieher haben sofort gemerkt, dass ich auf der Schulform nicht sein sollte und haben sich zusammen mit meiner Mutter dafür eingesetzt, dass ich mit neun Jahren auf eine Sprachheilschule wechseln konnte. Auf der Schule hatte ich das erste Mal wirklich Freunde, jeder hatte ein ähnliches Handicap, den Sprachfehler. Wir waren zehn Kinder in der Klasse und kamen sehr gut miteinander aus. Bedauerlicherweise hatte ich bis dahin noch nichts gelernt, was ein Schüler in der dritten Klasse an gelernten Kenntnissen haben sollte. Ich konnte nur meinen Namen "Marcel" schreiben.

Mühevoller Kampf um Anschluss

Immerhin lernte ich an der Schule viel, hier war ich das erste Mal richtig aufgehoben. Die Lehrer haben gezielt an meinen Schwächen gearbeitet, sodass ich mehrere Wörter schreiben konnte. Auch Lesen wurde mir beigebracht. Ich konnte nicht schnell lesen, eher sehr langsam. Wort für Wort.

An der Schule habe ich wöchentlich Sprachunterricht von meiner Lehrerin erhalten. Zwei Mal in der Woche war ich beim Lehrinstitut für Orthographie und Sprachkompetenz (LOS) über zwei Jahre, wo an der Lese- und Rechtschreibschwäche gearbeitet wurde. Die vierte Klasse habe ich auf Wunsch von meiner Mutter und Lehrer noch einmal wiederholt, um meine Leistungen zu verbessern. Mein Ziel war es, dass ich eine Hauptschule, also eine Regelschule besuchen darf. Tatsächlich wechselte ich nach der vierten Klasse auf eine Hauptschule mit Schwerpunkt auf Sprachheilkunde. Meine Leistungen für andere Regelschul-Formen reichten noch nicht aus. Doch es blieb ein Fortschritt.

Familiäre Rückschläge

Die Freunde meiner Mutter waren gewalttätig gegenüber Frauen und Kindern. Das Verhältnis zu meiner Mutter, die mich nie sehr gefördert hatte, ist noch heute angespannt. Denn noch dazu habe ich in dieser Zeit viele Dinge gesehen und erlebt, die ich keinem anderen Kind gönne und wünsche. Über Details möchte ich nicht erzählen. Jedenfalls habe ich das Erlebte auf meine eigene Umwelt reproduziert. Schon wenn es damals im Kindergarten oder Schule Streit gab, wusste ich immer sich wehren – ohne Worte.

Weil ich keinen Vater hatte, übernahm mein Opa seine Rolle. Er, der sonst immer sportlich aktiv war, wurde eines Tages krank. Daraufhin lag er über ein Jahr in diversen Krankenhäusern. Zu der Zeit schenkte mir meine Mutter zum Geburtstag einige Hanteln und Gewichte.

Marcel Labs heute
Marcel Labs heute

© privat

Ich war kein attraktiver Junge, war dick und hatte kein Selbstbewusstsein. Meinen Opa habe ich jeden Tag am Bett besucht. Zu Hause trainierte ich jeden Tag mit meinen Hanteln. Ich stellte mir vor, die gewonnenen Kräfte meinem Opa übertragen zu können. Das allein war mein Ziel. Doch der Sport machte auch mich stärker! Ich sah wohl auch besser aus, jedenfalls wurde ich das erste Mal von Mädchen angesprochen. Bereits mit 13 habe ich mich im Fitnessstudio angemeldet, wo ich auch seitdem bin. Im November 2007 verstarb mein Opa. Ein wichtiger Bezugspunkt in meinem Leben fehlte.

Der schrittweise Aufstieg

Meine Veränderung zeigte sich dann bereits bei den Noten auf meinen Zeugnissen. Ich wurde selbstbewusster und war angesehen bei meinen Mitschülern. Meine damalige Klassenlehrerin war der Meinung, dass ich zu schlecht für einen Schulwechsel sei. Ich hingegen hatte keine Schwierigkeiten mit meinen Aufgaben und kam gut mit. Natürlich war ich in Deutsch nicht der Beste. Dennoch bin ich froh, dass ich entgegen des Rates meiner Lehrerin auf eine Regelschule gewechselt bin. Ich bekam einen neuen Lehrer in der siebenten Klasse.

Eines Tages,  als meine Mutter und ich zusammen einkaufen waren, sah ich ein Buch. Ein Erotik-Buch, im Angebot für 3,49 Euro. Bücher empfand ich davor immer als unbedeutend. Keine Richtung hatte bis dahin mein Interesse wecken können. Egal wann und wo - ich habe jenes Buch, was immerhin 352 Seiten hatte, mit purer Leidenschaft gelesen. Meine Mitschüler fanden es seltsam, dass ich in den Schulpausen das Buch las. Mein Klassenlehrer allerdings fand dies gut, denn „Hauptsache er liest irgendwas". Das Lesen bewirkte viel, ich wurde im Satzbau, Ausdruck, Rechtschreibung und Grammatik deutlich besser, lernte viele neue Wörter kennen wie „paradox“ oder „primitiv“, die ich dann im Duden nachgeschlagen habe. Ich hatte das erste Mal in Deutsch eine Zwei auf dem Zeugnis.

Mein Lehrer erkannte meine positive Entwicklung und hat sich dafür eingesetzt, dass ich die Schule wechseln konnte. Dafür bin ich ihn bis heute dankbar. Auf der Gesamtschule wurde ich für ein halbes Jahr auf Probe aufgenommen, um zu schauen, ob ich dort auch zu recht komme würde. Und ich kam zurecht, mein Notenschnitt hat sich sogar verbessert. Mehr noch war ich von ungefähr 30 Schülern in der Klasse einer der Besten.

Warum bin ich hier gelandet?

Ich frage mich bis heute, warum viele meiner damaligen Mitschüler überhaupt eine Chance bekommen haben, im Unterricht teilzunehmen. Die Leistungen einiger Schüler waren im Vergleich zu mir äußerst schlecht, noch dazu waren viele sehr aggressiv und noch verhaltensauffälliger, als es die Schüler auf der Schule für Schwererziehbare waren. Ich weiß, dass meine Schule da keine Ausnahme war. In diesem Umfeld entwickelte ich ein kritisches Bewusstsein, welches für meine Lebensplanung wegweisend sein sollte. Gehören meine Mitschüler etwa eher auf eine Förderschule?  Und warum bin ich hier gelandet?

Mit 15 habe ich mir große Ziele gesetzt: Ich wollte der vielleicht erste ehemalige Sonderschüler sein, der Medizin oder Jura studiert. Denn ich wollte Menschen helfen, die mit ähnlichen Schwierigkeiten leben wie ich damals. Beim Praktikum bei einem Anwalt in der neunten Klasse habe ich bemerkt, dass die Tätigkeit doch nicht meinen Vorstellungen entspricht. Ihm fiel mein Sprachfehler auf. Er kontaktierte die Krankenkasse und erfragte, ob sie eine Sprachtherapie finanzieren würden. Der Dämpfer hielt mich nicht ab von meinem Aufstieg, denn während Deutsch meine Schwäche ist, bin ich naturwissenschaftlich hingegen begabt. Hierin förderte mich mein Physiklehrer. Ich nahm in den Ferien an Veranstaltungen zum Thema Physik und Medizin der Ruhr-Universität Bochum teil, war in Vorlesungen und interessierte mich für ein Studium. Auch in der Schule war ich wissbegierig, hielt trotz Sprachfehler gern Referate.

Das Abitur im Blick

Nach zwei Probetagen besuchte ich die zehnte Klasse der gymnasialen Oberstufe, eine Fünf in Englisch verhinderte den vollkommenen Wechsel die Elfte. Das Jahr zur Qualifikation vom Berufskolleg für die Oberstufe war alles in allem erfolgreich. Und das Erstaunlichste: Ich hatte eine Eins in Deutsch. Auch sprachlich machte ich Fortschritte. Mein Logopäde meint, ich spreche zu 95 Prozent perfekt – kein Vergleich also zu meinen früheren Leistungen.

Heute bin ich in der 12. Klasse und habe das Abitur fest im Blick. Es wird nicht einfach, doch angesichts der Hürden, die ich auf meinem Lebensweg bisher meistern musste, bin ich voller Zuversicht, ein Ex-Sonderschüler zu werden, der bald sein Abitur in den Händen hält.

Ich bin kein Einzelfall

Viele Lehrer meinten immer, mein Lebenslauf sei ein „Einzelfall“ und ich eine „besondere Ausnahme“. Sicher ist meine Biografie außergewöhnlich, aber genau das darf und müsste sie nicht sein. Für die meisten meiner ehemaligen Klassenkameraden bedeutete die sogenannte Förderschule die Endstation ihrer Laufbahn. Hier wurden sie von vorn herein abgeschrieben und auf dem Arbeitsmarkt nachhaltig diskriminiert.

Meine Geschichte behandele ich gelegentlich in Vorträgen an Schulen. Dabei geht es mir nicht nur darum, Schüler zu motivieren, dass sie etwas aus ihrem Leben zu machen, ganz gleich der Schwächen die jeder Mensch besitzt. Vielmehr noch prangere ich an meinem persönlichen Beispiel auch die verfehlte Inklusionspolitik an Schulen an. Förderschulen braucht kein Mensch; gleiche Chancen und eine optimale Förderung hingegen jeder. Dafür setze ich mich heute ein.

Auch außerhalb Duisburgs hält Marcel Labs Vorträge. Einladungen nach Berlin leiten wir gern weiter. Kontakt: schreiberling@tagesspiegel.de

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