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Berlin: Leg dein Ohr an die Stadt

Zu gucken gibt es jede Menge in Berlin, aber welche Hörenswürdigkeiten bieten die letzten 100 Jahre? Der Franzose Théo Lessour hat einen musikalischen Reiseführer seiner neuen Heimat geschrieben.

Irgendwo wird ja immer in Berlin getanzt, vor allem zu Techno. Aber die Stadt ist auch sonst sehr musikalisch und bietet mehr Facetten als Bummbumm – man muss nur genau hinhören. „Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte“, hat Max Herre von Freundeskreis einmal gesungen. Théo Lessour hat das gemacht, und zwar penibel. Zwei Jahre lang untersuchte der Franzose und Wahl-Neuköllner die Musikgeschichte in Berlin, der Zeitraum umfasst rund 100 Jahre. Herausgekommen ist der „Berlin Sampler“, ein ganz besonderes Buch – nämlich eine Art musikalischer Reiseführer. Untertitel: „From Cabaret to Techno: 1904–2012, a Century of Berlin Music“.

Die Liste der Künstler und Stilrichtungen, die Lessour vorstellt, ist lang, manche sind längst vergessen. Noch erstaunlicher ist, dass alle etwas miteinander zu tun haben. Das meint jedenfalls der Autor. Von Arnold Schönberg und Brecht/Weills „Dreigroschenoper“ über Hildegard Knef, Ton Steine Scherben, Punk und Neue Deutsche Welle bis hin zur Love Parade und der Clubszene rund ums Flaggschiff Berghain. Ein kunterbuntes Popourri, das Lessour zusammengetragen hat, aber mit Parallelen. „Ja, es gibt einen roten Faden, eine gemeinsame Linie quer durch die Epochen“, sagt der 45-Jährige. Er sitzt auf einer Bank am Landwehrkanal. Die Herbstsonne spendiert noch ein paar angenehm warme Strahlen. Der Schriftsteller und Musikjournalist wohnt am Rathaus Neukölln. Sein in der Nähe liegendes Büro aber teilt er sich mit ein paar anderen Kreativen am hübschen Maybachufer.

Vor fünf Jahren zog Lessour von Paris nach Berlin. Der Autorenname ist übrigens ein Pseudonym, eigentlich heißt er Guillaume. Seine große Liebe war da gerade verflossen und ein frischer Anfang musste her. Wie jeder Neuankömmling schaute auch er sich erst einmal um. Als Highlight wurde ihm die Eastside Gallery empfohlen, das Streetart-Denkmal der einst geteilten Stadt. Auch den Alexanderplatz, den Ku’damm, den Gendarmenmarkt, die Schlösser in Potsdam sollte er sich mal ansehen. Die üblichen Sehenswürdigkeiten eben. Aber niemand konnte mir sagen: Du musst das und das hören, um Berlin, die ganze Gegend hier kennenzulernen“, erzählt der Musikfan, der selbst mal in einer Rockband gespielt hat.

Man hört, dass Lessour aus Frankreich kommt, aber sein Deutsch ist ziemlich fließend. Wenn ihm mal ein paar Vokabeln fehlen, ergänzt er einfach auf Englisch.

Um seinen „Berlin Sampler“ mit Fakten zu bestücken, besuchte er das Deutsche Musikarchiv, die zentrale Sammlung von Tonträgern und Noten. Inzwischen ist das Archiv nach Leipzig umgezogen, aber als Lessour recherchierte, befand es sich noch in einer Villa in Lankwitz. „Ich wollte nicht nur Wikipedia-Informationen zusammentragen“, sagt er. Außerdem stehe über manche Künstler zu wenig im Netz, zum Beispiel über Hanns Eisler, den Komponisten und Weggefährten von Bert Brecht. „Im Musikarchiv fand ich dann drei DDR-Musikzeitschriften, die sich komplett dem Leben von Eisler widmeten“, sagt Lessour.

Aber was verbindet nun einen Hanns Eisler mit anderen Protagonisten der Berliner Musikgeschichte, etwa mit Wolf Biermann, mit den Einstürzenden Neubauten und den DJs, die heute in kleinen Clubs Minimal Techno auflegen? Die „gemeinsame Linie“ sei das Experimentelle und das Unkonventionelle, findet Lessour. Berliner Künstler hätten sich schon immer gegen Zeitgeist und Mainstream gestellt. Einige so sehr, dass ihnen nur das Exil blieb. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, flüchteten Eisler und viele andere. Wolf Biermann musste später gehen, weil er sich gegen die DDR-Diktatur auflehnte. Und der erklärte Berlin-Fan aus Hamburg, Udo Lindenberg, den der Autor einfach mit eingemeindet, sang von der anderen Seite der Mauer dagegen an. Und immer wandten sich die Künstler gegen Kapitalismus und „Leistungsterror“, ein unter Hippies und Punks nach wie vor beliebter Begriff.

Der „Exberliner“, ein englischsprachiges Magazin für Eingewanderte, würdigt Théo Lessour als einen archetypischen Intellektuellen. Kunstvoll und lesbar zugleich sei das, was der Franzose im „Berlin Sampler“ zusammengetragen habe. Tatsächlich ist die Lektüre sehr lohnend. Danach weiß man, dass es den „Sound of Berlin“, der heute Menschen aus aller Welt anlockt, schon lange vor Techno gab.

Théo Lessour: Berlin Sampler – From Cabaret to Techno, 1904–2012, a Century of Berlin Music, Ollendorff Verlag Berlin 2012, 365 Seiten, 18 Euro. Infos: www.berlin-sampler.com. Außerdem kann man den „Berlin Sampler“ anhören, auf der Internet-Musikplattform Soundcloud. Suchbegriffe: Theo Lessour und Berlin Sampler.

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