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Sogar bebildert: Die Leitartikelseite des Tagesspiegel vom 21. Oktober 1946, am Tag nach den historischen Gesamtberliner Wahlen, die nach dem Krieg die ersten und vor der Wende die letzten waren.

© Tsp

Leitartikel zur Berlinwahl 1946: Protestwahlen?

Es waren historische Wahlen 1946: Wir dokumentieren hier den Leitartikel von Tagesspiegel-Gründer Erik Reger am Tag nach der ersten freien Berliner Abstimmung nach dem Krieg.

Als Anfang Juli die Alliierte Kommandantur 'dem Berliner Oberbürgermeister mitteilte, daß die Wahl einer Stadtverordnetenversammlung am 20. Oktober stattfinden werde, trat die größte Stadt Deutschlands in den zweiten Abschnitt der Nachkriegszeit ein, deren erster mit der bedingungslosen Kapitulation des "Dritten Reiches" eingeleitet worden war. Dieser zweite Abschnitt, die Vorbereitung eines verfassungsmäßigen demokratischen Status, wurde am gestrigen Sonntag von der Berliner Bevölkerung durch ein glänzendes Votum zu ihrer eigenen Sache gemacht. Mit dieser Wahl, darf man sagen, ist der- Totalitarismus niedergeschlagen.

Dies ist der wichtigste Punkt. Denn in dem hinter uns liegenden Jahre war neben der Sorge um die endgültige Liquidation des Nationalsozialismus eine weitere entstanden: die Gefahr der Ablösung der einen Parteidiktatur durch eine neue. Diesem Versuch ist durch die Berliner Wahlen eine überwältigende- Absage erteilt worden ; aber auch nach den bei Redaktionsschluß vorliegenden Resultaten von den Land- und Kreistagswahlen in der Ostzone hat die Partei, die ein als "autoritäre" Demokratie maskierte« Diktatursystem auf ihre so zahlreichen Fahnen geschrieben hat, einen beträchtlichen Rückschlag erlitten, nachdem sich schon bei den Gemeindewahlen gezeigt hatte, daß der Erfolg der Einschüchterungsmethoden bedeutend geringer war, als viele befürchtet hatten - und dies, obwohl die anderen Parteien in jeder Weise in ihrer Entfaltung behindert waren und die bedeutendste deutsche Partei, die Sozialdemokratie, dort überhaupt nicht zugelassen ist. Zwar genügen zur Stunde die aus der Ostzone eingelaufenen Meldungen noch nicht zu einem vollständigen Überblick, aber sie genügen, bei aller gebotenen Reserve, im Verein mit dem schon klaren Berliner Ergebnis zu der Feststellung, daß das deutsche Volk aus den Leidensjahren gelernt hat, daß ihm eine Diktatur genügte, und daß es sehr wohl auch unter schwierigen Umständen imstande ist abzulehnen, was ihm gegen seinen Willen aufgezwungen werden soll. Diese Wahl widerlegt die Meinung, die uns gelegentlich von Freunden im Ausland geschrieben wird: es sei hoffnungslos, für das deutsche Volk zu arbeiten. Diese Wahl rechtfertigt diejenigen, die sich zwar über die Mühseligkeit des Weges zur deutschen Demokratie keinen Illusionen hingeben, die aber überzeugt sind, daß der Weg mit durchaus berechtigter Hoffnung beschriften worden ist. Der größte Fehler, den viele Beobachter begehen, liegt darin, daß sie alles vom Augenblick erwarten -und, daher manchen Einzelerscheinungen eine übertriebene Bedeutung beimessen. Selbstverständlich kann nach solchen Katastrophen, wie das deutsche Volk sie seit 1918 hat erleben müssen, die Entwicklung nur In bescheidenen Etappen vor sich gehen. Vor ein paar Tagen hat Gabriele Strecker, die deutsche Vertreterin auf der Internationalen Frauenkonferenz in New York, in einem Interview gesagt: "Wenn man in einem totalitären Staat mit der Regierung nicht übereinstimmt, ist man ganz allein, so allein, wie man es sich kaum vorstellen kann. Und dann, irgendwann einmal, kommt der Augenblick, da man sich sagt: vielleicht habe ich unrecht, Wie ist es denn möglich, daß so viele anders denken als ich? Wie kann denn ich allein so denken?" Anna Bürger hat daran in einem Kommentar von Radio New York die Bemerkung geknüpft: "In einem normalen demokratischen Staat hätte es überhaupt niemanden gestört, daß Millionen anders denken, aus dem einfachen Grunde, weil man nicht nur die Millionen gesehen hätte, die anders dachten, sondern auch die Millionen, die genau so dachten wie man selbst... Aber wenn man zwölf Jahre lang die Welt, an die man glaubt, nur in seinem eigenen Herzen und nirgends in der Wirklichkeit gesehen hat, dann muß die Welt, die man sich baut, mehr und mehr eine Traumwelt sein... Das ,Dritte Reich' gibt es nicht mehr, aber die seltsamen Traume gibt es nun auch nicht mehr, die seltsamen Menschen, die so gut zueinander sind und so demokratisch. Langsam wird der Müde enttäuscht sein, Sein Schmerz liegt in der -tatsächlichen Trennung der Realitäten von den Wünschen, Träumen und Zielen.J3er Garten Eden Ist noch nicht da, und er wird wahrscheinlich niemals kommen. Aber das darf uns nicht hindern, danach zu streben."

Selten hat man die Situation so erschütternd wahr schildern hören wie durch diese amerikanische Stimme. Von hier aus gesehen, bedeuten die gestrigen Wahlen einen großen Gewinn - einen Gewinn, bei dem es um mehr geht als um die Partei, die gesiegt hat (und der damit eine ungeheuere Verpflichtung auferlegt ist); sie sind ein weithin erkennbarer Fortschritt, der wesentliche Konsequenzen in nationaler wie in internationaler Beziehung haben muß. Aus der Traumwelt, um bei dem Wort Anna Bürgers zu bleiben, hat Berlin die Tore in die. Welt der Realität geöffnet. Aber damit ist nicht alles gesagt. Dies ist erst ein einziger Schritt, und jetzt heißt es: nicht stehenbleiben. Der bewiesene Mut muß in die Kraft der Vernunft umgewandelt werden. Von dem Maße, in dem es geschieht, hängt die Beantwortung der Frage ab, ob die Skeptiker recht haben, die diese Berliner Wahlen als "Protestwahlen" bezeichnen. Protestwahlen - das besagt, daß mehr "gegen" etwas als "für" etwas gewählt wird. Nüchtern betrachtet, läßt sich zunächst einmal klarstellen, daß die der Sozialistischen (Kommunistischen) Einheitspartei zugefallenen Stimmen ohne jeden Zweifel für etwas abgegeben wurden, nämlich für die "Diktatur des Proletariats". Wenn aber nun alle anderen Stimmen, gleichgültig wem sie zugute kamen, offensichtlich der Abwehr einer solchen Diktatur dienten, so ist in ihrem "Gegen" schon das "Für" eingeschlossen. Mag sein, daß bei vielen, ja sehr vielen dieser Wähler, der Gedanke überwog, man müsse in erster Linie alle Energien zusammenfassen, um die drohende Gewaltherrschaft einer Partei abzuwenden. Die Differenzierung in der Zahl der Stimmen, die die anderen drei Parteien erhielten, macht es jedoch ganz deutlich, daß sogar diejenigen, die in der Hauptsache als "Gegen"-Wähler auftraten, sich sehr genau darüber erklärt haben, wem sie die Kräfte zutrauten, die- sie für notwendig erachten. Ja, noch mehr: selbst wenn man vorsichtigerweise berücksichtigt, daß in den Stimmen für die SPD auch, und wahrscheinlich in großer Zahl, solche stecken, die aus dem "bürgerlichen" Lager kommen und einfach weil sie von äußerster Ehrlichkeit sind, keine bessere Heimat zu finden glaubten, selbst dann erkennt man den positiven Kern einer leidenschaftlich demokratischen Gesinnung, Und ein weiteres Moment: das Gefühl, daß die privatkapitalistische These nicht mehr vertretbar sei, ist so beherrschend gewesen, daß es eich durch alle Besonderheiten im einzelnen hindurch abzeichnet. Solche Besonderheiten mögen bei den Wählern der CDU in religiösen Motiven, bei den Nicht Wählern der LDP In dem geringen Zutrauen zu der Einheitlichkeit und Bewußtheit der Führung gelegen haben. Wie wenig diese Wahl eine reine Protestwahl war, geht auch daraus hervor, daß diesmal die sehr verschiedenartige soziologische Struktur der Berliner Bezirke eine wesentlich geringere Rolle gespielt hat als vor 1933.

In einem größeren Zusammenhang muß aber noch auf etwas anderes hingewiesen werden. Durch diese Wahl ist Deutschland aus der Isolierung herausgerissen worden. In dieser Hinsicht stellt sie die entschiedene Krönung der Entwicklung dar, die schon die Wahlen im Westen und Süden gezeigt hatten. Deutschland geht wieder konform mit der zivilisierten Welt. Es bewahrheitet sich, was nach einer Wiedergabe im Deutschen Pressedienst die englische Wochenzeitschrift "Economist" schrieb: "Deutschland hat die in Europa festzustellende Bewegung nach rechts klar mitgemacht." Nach rechts: wir ahnen in dieser Stunde schon, was die durch Volksspruch abgeurteilte - In einer Weise abgeurteilte, daß man nach all dem makabren Trommelwirbel ihrer dem 30. Januar 1933 ähnlichen Fackelzüge an die propagandistische Begleitmusik jener berühmten Niederlage des Boxers Schmeling erinnert wird -, was also diese Sozialistische (Kommunistische) Einheitspartei nun auftischen wird: "Die Reaktion erhebt ihr Haupt - das Vaterland ist in Gefahr!" Aber die Stunde ist zu ernst für solche Clownerien, die Menschen in Deutschland sind Gott sei Dank zu ernst geworden, als daß sie auch nur darüber lachen würden. Hie» hilft nur ein Achselzucken. Was wirklich vorgeht, hat die in unserer Sonntagsausgabe teilweise abgedruckte Untersuchung der "New York Herald Tribüne" ausgesprochen, hat auch der oben erwähne "Economist" verdeutlicht: es gibt noch eine einzige Furcht, und diese Furcht ist gut und positiv - die Furcht vor einer Diktatur, die das Vorzeichen gewechselt hat.

Von den Überraschungen, die diese Wahl in Einzelheiten auch für diejenigen gebracht hat, die nach sorgfältigen Beobachtungen wußten, daß ihr nicht ohne Grund gefaßtes Vertrauen zu der Einsicht ihrer Mitbürger nicht enttäuscht würde - von solchen Überraschungen ist an anderer Stelle dieses Blattes die Rede. Hier soll und darf noch einmal der Freude Ausdruck gegeben werden, daß dieses Vertrauen über Erwarten hoch bestätigt wurde. Es ist, weiß Gott, kein Propagandaerfolg. Wenn es Propagandaerfolge gegeben hätte, so hätte sie die SEP verzeichnen müssen. Wir möchten hier betonen, daß kein Anzeichen eines Beweises für irgendeine Unterstützung der von der SEP offen verbreiteten Versprechungen und indirekt oder heimlich ausgestoßenen Drohungen durch die russischen Militärbehörden vorliegt. Wir können indessen nicht an der Tatsache vorbeigehen, daß das von der russischen Armee herausgegebene Berliner Blatt, die "Tägliche Rundschau", die Sozialistische Einheitspartei verherrlicht und alle anderen Parteien angegriffen hat. Es wirkt merkwürdig, wenn dasselbe Blatt Einwände gegen den auch von uns in Nr. 243 veröffentlichten Artikel "Fürchtet euch nicht" von Hans Wallenberg ejhebt, und zwar mit den in den Spalten einer einseitig die SEP begünstigenden Zeitung besonders eigenartig anmutenden Worten: "Die politischen Leidenschaften sind so erhitzt, daß sich sogar Organe, die sich bis jetzt absolut korrekt verhielten (gemeint ist die von der amerikanischen Armee herausgegebene "Neue Zeitung", - aus der wir Wallenbergs Artikel übernahmen. D. Red.), hinreißen - i lassen, eine Stellung einzunehmen, die nichts mit demokratischer Objektivität zu tun hat, sondern den Anblick engster und vollkommen unobjektiver Parteipolitik bietet." Falls einer unserer Leser diese Charakterisierung eines in Anbetracht der tatsächlichen Verhältnisse außerordentlich gemäßigten Artikels akzeptieren sollte, so überlassen wir es ihm, die geeigneten Worte für die politische Haltung der "Täglichen Rundschau" zu finden. Sehr viele Kommentatoren der Lage glaubten andeuten zu müssen, daß es für die übrigen Sektoren Berlins richtig oder notwendig gewesen wäre, die Bevorzugung einer besonderen Partei (die in all und jedem, Reklameflächen, Versammlungsräumen, Papier und Benzin einen Vorrang hatte) nachzuahmen. Wir wissen nun, daß es nicht notwendig war, und wir meinen, daß es auch nicht richtig gewesen wäre. Wer einen Grundsatz aufgibt, gibt sich selbst auf. Im übrigen zeigen die Zahlen aus dem russischen Sektor Berlins, daß die Bevölkerung sich durch nichts hat verblüffen lassen. Dies ist für uns Deutsche das Entscheidende. Darüber hinaus ist jetzt auch für den größten Skeptiker jeder Zweifel daran beseitigt, daß die Vereinigung der SPD und KPD zur SEP nicht dem Willen der Mehrheit entsprach, und daß die SEP in Wahrheit nicht einmal einen einigermaßen ansehnlichen Bruchteil der Arbeiterschaft vertritt. Was ihr verblieb, sind (neben ganz wenigen von unüberwindlicher Kleingläubigkeit Besessenen und den etwas zahlreicheren Konjunkturbeflissenen, die immer irgendwo ihren Vorteil suchen, durch kein geschichtliches Ereignis belehrt oder abgeschreckt werden und deshalb heute dort, morgen hier Pgs sind) die bekenntnistreuen Sektierer, für die Politik eine Religion ist.

Der Freiheit eine Gasse - so hat Berlin gewählt.

Tweets aus der Nachkriegszeit mit Zitaten und Beiträgen des Tagesspiegel-Gründers Erik Reger und anderer Tagesspiegel-Autoren aus jener Zeit finden Sie hier.

Erik Reger

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