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Berlin: Leokadia Meister (Geb. 1912)

„Lottchen, du bist ’ne Frohnatur. Unterschreib das nicht.“

Von David Ensikat

Schwester Lavidia stellt das Radio an, leise, damit die Musik nicht aus dem Zimmer dringt. Sie nimmt Schwester Leokadia in den Arm und tanzt mit ihr vorsichtige Runden. Wenn die beiden Frauen, ganz in Weiß, nur schwerelos wären. Niemand darf ihre Schritte hören. Man tanzt hier nicht.

Das katholische Katharinenstift in Berlin, 1930. Leokadia hat die Schwesternausbildung hinter sich, sie kann Nonne werden, soll sich jetzt entscheiden. Schwester Lavidia, älter als Leokadia, erfahrener, rät: „Lottchen, du bist ’ne Frohnatur. Unterschreib das nicht.“

Am 19. Januar 1938 heiratet die „Arbeiterin Leokadia Kazmierska“, die auf Fotos ein wenig schüchtern lächelt, den „Einsteifer Karl Rudolf Meister“, der sehr ernst in die Kamera zu blicken pflegt. Er ist Fleischer von Beruf, war lange arbeitslos und stabilisiert jetzt für den Reichsarbeitsdienst Baugruben mit Holzpaneelen. Im Jahr der Hochzeit arbeitet er am neuen Fundament der Siegessäule, die Albert Speer vom Platz vorm Reichstag auf den Großen Stern umsetzen lässt. Rudi, so nennt man ihn, findet in der Grube einen Bernstein, fast so groß wie die Hand eines Neugeborenen. Den schenkt er seiner Käthe, die man nicht mehr Lottchen nennt und Leokadia nur auf den Ämtern. Sie wird den Stein bis an ihr Lebensende behalten, an einer Kette wird sie ihn tragen. Ihr dritter Sohn wird ihn erben und ihn stolz zeigen: „Da, die Bissspuren meiner Geschwister.“

Käthe tanzt weiter, ihr Leben lang. Manchmal mit Rudi, aber der macht Faxen auf der Tanzfläche, das mag sie nicht. Es finden sich andere – nur zum Tanzen, versteht sich. Sie gewinnt bei einem Wettbewerb eine Wasserkaraffe mit Stahlgestell; die wird sogar den Krieg überdauern.

Nach dem Krieg arbeitet Käthe als Säuglingsschwester in einem Heim in Weißensee, drei Schichten. Rudi, von der Front lädiert zwar, aber immerhin lebendig heimgekehrt, arbeitet als Heizer. Er hat seine Skatabende, ein Mal im Monat, sie ihre Tanzabende, ein Mal im Monat. Jeder seins, jeder, wie der Sohn das sieht, zufrieden. Diesem Sohn hat Käthe das Tanzen beigebracht. Wenn eine gute Musik im Radio kam, nicht so neumodisches Zeug ohne vernünftigen Rhythmus, dann schob sie den Tisch beiseite und griff ihn sich: Foxtrott und Walzer muss ein junger Mann manierlich hinbekommen. Er hat das kaum gebraucht im Leben, aber er sagt, wie zu vielem: „Jeschadet hat’s nüscht.“ Wenn er ihr auf die Füße trat, sagte sie: „Stellda mal nich’ so blöde an, hörste.“

Ihr Mann starb, da war sie 75. Nach wenigen Jahren setzte sie ihre erste Annonce in die Zeitung, auf der Suche nach einem „Gesellschafter“, wie sie das nannte. Sie hatte einige, streng nacheinander. Sie hat sie alle überlebt. Der Beste war Helmut. Mit dem unternahm sie viel, fuhr mit ihm Dampfer, aber nur wenn Tanz dabei war, traf ihn jeden zweiten Tag. Dann hatte sie die Tage dazwischen Zeit, zu Hause sauber zu machen. Ihre letzte Annonce gab sie 2001 auf mit 89 Jahren: „Junggebl. Dame, 80/1,65, sucht netten Herrn um die 80 J., dem Ehrlichkeit und Treue noch etwas bedeuten.“ Erich meldete sich darauf, fünf Jahre jünger als sie. Aber Erich war schon ziemlich krank.

Zum letzten Mal getanzt hat Käthe zu ihrem 90. Geburtstag. Es blieb die Sehnsucht nach den freien und doch reglementierten Bewegungen. Bei Musiksendungen drehte sie den Fernseher lauter, Roger Whittaker mochte sie sehr.

Als sie im Pflegebett lag, zu Hause, gab es eine Schwester, Claudia, die mochte sie besonders. Die hatte nicht mehr Zeit als die anderen, eine Stunde in der Früh; aber sie wusste, worüber sich die alte Dame freute. Ein Mensch-ärger-dich- nicht-Spiel – man weiß nicht genau, ob Käthe bewusst schummelte, oder ob es an den schlechten Augen lag –, ein Gespräch über die Tanzvergnügen früher im Prater, Prenzlauer Berg. Und wenn eine schöne Musik im Radio kam, drehte Schwester Claudia es lauter: „Na, Frau Meister, kleines Tänzchen gefällig?“

Käthe sagte dann: „Naja, kann ja nich’ mehr, wie ick will“. Die Hände bewegte sie im Takt und manchmal, vorsichtig, auch die Füße unter der Decke. David Ensikat

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