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Berlin: Letzter Schultag: Und vor uns das größte Abenteuer: die Familie (Kommentar)

Geschafft. Die Sommerferien des Jahres 2000 haben begonnen - und schon die einprägsame Jahreszahl bietet eine gewisse Garantie dafür, dass wir uns noch in Jahrzehnten an diesen Urlaub erinnern werden - an das, was uns darin gelungen ist und was nicht.

Geschafft. Die Sommerferien des Jahres 2000 haben begonnen - und schon die einprägsame Jahreszahl bietet eine gewisse Garantie dafür, dass wir uns noch in Jahrzehnten an diesen Urlaub erinnern werden - an das, was uns darin gelungen ist und was nicht. Doch es ist gerade aus Berliner Sicht mehr als nur die oberflächliche Zahlenmystik, die die kommenden Wochen mit besonderer Bedeutung auflädt. Die Stadt hat, wie es scheint, in den vergangenen Monaten endlich das bekommen, was sie immer gewollt hat, sich aber so anstrengend nie vorstellen konnte; die Nerven liegen blank, der Rhythmus zunehmender, sich verdichtender Arbeit steckt in den Knochen, das höllische Tempo der Veränderungen in allen Ecken der Gesellschaft lässt jeden fürchten, den Anschluss zu verlieren. Ja, welche Gewissheit gibt es überhaupt noch, wenn im Deutschland dieser Tage sogar eine Steuerreform nicht länger unmöglich ist?

Der Urlaub soll nun alles wieder gut werden lassen. Die so genannten schönsten Wochen des Jahres haben gefälligst ihre Pflicht zu erfüllen, und zwar sofort, beginnend am heutigen Mittwoch nach dem letzten Ton der Schulklingel. Ob aber nun Sonnenbaden, Hardcore-Wandern, Bücherlesen oder eher neumodische Beschäftigungen wie Canyoning oder Geröllboarding auf dem Programm stehen - das größte Abenteuer in diesen Tagen bleibt die Familie. Der Urlaub ist ja nur der formale Rahmen für eine hermetische Situation, in der Vater, Mutter und Kinder auf sich selbst zurückgeworfen sind und nun zwischen den engen Wänden eines Apartments - mit Meerblick, aber ohne Playstation - unter Umständen entdecken, dass sie sich fremd geworden sind oder zumindest mächtig auf die Nerven gehen.

All inclusive, die Verheißung des modernen Schlaraffenlands im Reisekatalog, bedeutet, dass stets Regenwetter, Familienkrach und Langeweile im Preis eingeschlossen sind, auch wenn der Katalog darauf nicht eigens hinweist. Und schließlich holt sich auch der Körper seinen Teil: Viele ganzjährig überlastete Urlauber erleben immer wieder, dass sie von verschleppten und verdrängten Krankheiten überwältigt werden, kaum, dass die Anspannung nachlässt.

Hamster ohne Laufrad

Womöglich ist die autonom gewählte Hektik mit Besichtigungsprogrammen, Warteschlangen und Autobahnstaus nur eine naheliegende, gesellschaftlich akzeptierte Art von Flucht aus der Verantwortung gegenüber sich selbst und der Familie, ein Spiegelbild des Alltags plus Sonne und Sangria. Der aufgekratzte Animateur holt uns immer noch rechtzeitig zum Volleyball, bevor wir in der Lage wären, familiäre Nähe zuzulassen, wie die evangelischen Akademien wohl formulieren würden, und er übt damit einen subtilen Druck aus, der uns all die guten Vorsätze wieder zurückstellen lässt: Es war so viel los im Hotel, dass wir wieder mal zu nix gekommen sind, nicht wahr? Das betrifft längst nicht nur die vielfältigen Formen des Ballermann-Urlaubs: Auch das ayurvedisch fundierte Trekking durch die Wüste Gobi mit handgesägten Zeltstangen und selbst gekochtem Kaktusgulasch trägt alle Anzeichen der Flucht vor der Konfrontation mit sich selbst.

Es mag an dieser Stelle seltsam klingen: Hier ließe sich von den Politikern lernen. Die rituellen Umfragen der Zeitungen nach deren Urlaubszielen bringen alljährlich das gleiche Ergebnis: Sylt, Lüneburger Heide, Schweden, Südtirol. Und das, obwohl das Island-Hopping in der Karibik oder das Tauchen auf den Seychellen standesgemäßer wären. Wie oft Helmut Kohl für sein spießiges Beharren auf der Sommerfrische in St. Gilgen auch bespöttelt worden ist - wir erkennen darin auch eine wertkonservative Widerstandshandlung gegen den Verwertungszwang der Urlaubsindustrie, die uns noch die letzten Winkel der Erde zum Fraß vorwerfen will, in ökologisch unbedenklicher Form, versteht sich. Und auch viele ähnlich überlastete Wirtschaftsbosse lenken den neuen Zwölfzylinder nicht in den Stau vor Juan-les-Pins, sondern vors Ferienhaus im Sauerland. Ohne Handy, was allmählich zum Zeichen des echten Luxus wird.

Die Kulturkritik hat früher den organisierten Urlaub gern mit dem Zug der Lemminge verglichen, der tödlichen Massenflucht ins Nichts. Doch die meisten von uns überleben. Womöglich gleichen wir eher Hamstern, denen eine höhere Instanz einmal im Jahr das Laufrad wegnimmt.

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