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Berlin: Lieblingsplätze: Restaurantkritik ist nicht viel objektiver als Kunstkritik

Mal sehen, was sich so tut an den Lieblingsplätzen in diesem Jahr. "Dies ist gegenwärtig das interessanteste und kulinarisch zukunftsträchtigste Berliner Restaurant", habe ich im vergangenen Jahr über das frisch eröffnete "E.

Mal sehen, was sich so tut an den Lieblingsplätzen in diesem Jahr. "Dies ist gegenwärtig das interessanteste und kulinarisch zukunftsträchtigste Berliner Restaurant", habe ich im vergangenen Jahr über das frisch eröffnete "E.T.A Hoffmann" geschrieben, und nun kann ich hinzufügen: Niemand kocht in Berlin gegenwärtig besser als Tim Raue. Wie er den Sachen durch artistische Würzung Geschmack beibiegt, wie er sich um keine Konvention kümmert und doch nie den Eindruck von Willkür erweckt - das ist die Küche des 21. Jahrhunderts. Drei sensationelle Varianten zum Thema Gänseleber mit Früchten, serviert in der Etagére: sanft gebraten mit Reneclauden, als kalte Creme mit Mangogranité, gewürfelt mit Mispeln und Trüffeln. Artischockenravioli mit schmelzend cremiger Füllung auf einem Zicklein-Sauté mit grünem Pfeffer. Jacobsmuscheln auf Koriander-Blancmanger mit Sauce Rouille. Knusprig gebackenes Perlhuhn mit Sauce Bearnaise auf Kalbskopf-Tomaten-Salat. Rotbarben mit Calamaretti und weißem Bohnenpüree. Uff: Jeder Gang besser als fast alles andere, was wir in diesem Jahr in Berlin kosteten. Das wäre schon Furcht erregend, fehlte nicht bei den (durchweg guten) Desserts die Stabilität. Sie sind noch nicht Raues Lieblingsthema. Die Weinkarte wiederum lässt allmählich den Rest der Stadt ebenfalls hinter sich. Drei Seiten zum Thema Süßwein, viele rare Kalifornier, vor allem aber Burgunder. Wo sonst gäbe es den überirdischen 1983er Meursault von Leroy, wo sonst würden eine Riesling-Auslese von Willy Schaefer oder ein 1982er Suduiraut offen serviert? (Tel.: 7809 8800).

Erstaunliche Erfahrung im "First Floor" des Palace-Hotels: ein Spontan-Besuch. Zubereitungen auf höchstem Niveau wie gewohnt. Wir sind dort unweigerlich bekannt, also müsste doch der Küchenchef Mathias Buchholz mal vorbeischauen? Aber er hat frei an diesem Mittag - und beweist so, dass er seinen Job gut macht. Denn im (wohl einzigen) deutschen Top-Restaurant, das an sieben Tagen der Woche geöffnet ist, müssen auch die Sous-Chefs handwerklich perfekt und voll motiviert mitziehen. Hier tun sie es. Nun ja: Wenn der Chef selbst kocht, haben die Desserts noch ein wenig mehr Esprit ... (Tel.: 2502-0)

Weiter auf Gipfelsturm. Kurt Jäger, der draußen im Schloss Hubertushöhe in Storkow unangefochten den brandenburgischen Küchen-Olymp besetzt, hat noch nie so inspiriert und originell gekocht - man könnte ihn sich als kulinarischen Vater von Tim Raue vorstellen. Steinbutt auf Holundersauerkraut mit Kardamom-Jus, Huchen (Donaulachs) "mit viel Petersilie" auf Nelken-Risotto, fabelhafte Jacobsmuscheln in subtilem Marzipan-Auszug mit Estragon-Spinat, Taubenbrust und Zwerghuhn mit Trüffeln und dieser Jäger-Spezial-Rotweinsauce ... (Tel.033678/43-0)

Wird der Michelin Jägers Künste in diesem Jahr endlich wieder honorieren? Die Chancen für den schon oft ausgezeichneten Altmeister stehen nicht schlecht, sicher besser als bei Raue, der für seinen ersten Stern vermutlich noch Jahre um sein Leben kochen muss wie einst Johannes King im "Grand Slam". Die Berliner Restaurants werden von draußen noch immer traditionell unterbewertet, obwohl es ja heute nicht mehr nötig ist, schlecht gelaunte Vorkoster zur Strafexpedition über die Transitstrecken zu schicken ...

Das bringt mich auf den "Feinschmecker", der die hiesige Szene mit seiner neuen Bewertung wieder einmal in fassungsloses Staunen versetzt hat. Der Lieblingsfeind des Blattes, Markus Semmler, für seine (vorzügliche) "Mensa" mit anderthalb Punkten bewertet, gleichauf mit "Shima", "Du Pont" und dem Rheinsberger "Seehof" - man wundert sich, dass er nicht seinen Rechtsanwalt schickt. Tim Raue mit zwei Punkten ebenso bewertet wie das (gewiss respektable) "Alte Zollhaus" - da stimmt nun wirklich überhaupt nichts mehr. Eins aber doch: "Ana e Bruno" als bestes ausländisches Restaurant in Deutschland, das ist eine gute Entscheidung.

Gerade eben kommt mir Gert v.Paczenskys Bericht über Berlin auf den Tisch, erschienen im neuen Heft von Essen &Trinken. Um es kurz zu machen: Nacktes Entsetzen. Tim Raue und Wolfgang Nagler (Quadriga) ruppig niedergemacht, andere in den Himmel gehoben. Gibt es in Berlin ein Parallel-Universum? Hat Paczensky es in die vierte Küchendimension geschafft? Ach: Der Kollege hat sich um die gute Küche in Deutschland wirklich verdient gemacht und beweist nun immerhin wieder einmal, dass Restaurantkritik ungefähr so objektiv ist wie Kunst- oder Musikkritik. Was haben die gestandenen Experten damals nicht über Picasso geschimpft ...

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