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Auf fremden Federn. Ihre Gastgeber findet Christine Neder, 25, über das Internet. Nur Sex ist während der 90 Tage tabu – das wollen aber nicht alle gleich einsehen.

© Davids

Berlin: Liegender Wechsel

Eine Münchnerin schläft jede Nacht in einem anderen Berliner Bett – und berichtet im Internet über ihre Erfahrungen. Manche sind sehr skurril

Küchen sind doch alle irgendwie gleich. Christine Neder findet Topf und Kochlöffel fast sofort. Dabei hat sie die Wohnung gerade zum ersten Mal in ihrem Leben betreten. Thunfisch, Nudeln und Mais hat sie gleich als Erstes aus ihrem Rollkoffer ausgepackt und losgekocht. Die Bewohnerin der Wohnung, die sie bis eben noch nicht kannte, guckt zu.

„Ich komme immer gleich an“, sagt Christine Neder, 25, Praktikantin bei einem Kunst- und Modemagazin. Sie ist zurzeit überall und nirgends in Berlin zu Hause. Jeden Abend kommt sie sozusagen in ein neues Heim. Denn sie hat sich vorgenommen, 90 Tage in 90 verschiedenen Berliner Betten zu verbringen. Über ihre Erlebnisse schreibt sie einen Blog unter der Adresse lilies-diary.blogspot.com, der wurde inzwischen schon rund 50 000 Mal angeklickt. Außerdem arbeitet sie an einem Buch. Einen Vertrag mit einem Verlag hat sie bereits.

Übers Internet findet sie auch ihre Gastgeber: Über Couchsurfing und Facebook vor allem – da hat sie um die 600 „Freunde“, die wiederum viele Freunde haben. Sie wolle wohl „hinter die Digitalfassaden sozialer Netzwerke blicken“, attestierte ihr einer der Gastgeber in einem „Gastbeitrag“ auf ihrem Blog. Das könne sie „so stehen lassen“, findet Neder. Ursprünglich sei sie aber einfach zu spontan fürs Praktikum aus München nach Berlin gezogen, um sich noch eine Wohnung zu suchen. Daraus entstand ihr Konzept. Jetzt hat sie schon Tag 66 hinter sich. Und sie ist froh, ein spannendes Thema für ihren Blog gefunden zu haben. Früher schrieb sie über Männer und langweilte sich dabei.

„Ich bin inzwischen null aufgeregt, wenn ich in eine neue Wohnung komme“, sagt Christine Neder. Man glaubt ihr das sofort – so entspannt wirkt sie beim Kochen in der fremden Küche. Es riecht gut, das Essen ist gleich fertig und zum Dessert gibt es Geschichten über ihre Erlebnisse: Sie hat in „Stalins Bädern“ geschlafen und dabei herausgefunden, dass das nur die sozialistischen Prunkbauten an der Karl-Marx-Allee sind und nicht die Dusche des Despoten mit goldenen Hähnen. Eine Luxusbadewanne und einen Kamin fand sie dann im Scheunenviertel. Eines Morgens wachte sie bei einem Mitglied des Harley-Davidson-Clubs auf – und merkte schlaftrunken, dass ihr Bett in einer Grafikagentur stand, in der schon gearbeitet wurde. Das Büro war gleichzeitig das Wohnzimmer des Gastgebers. In Erkner wollte eine ältere Frau sie in einem Zimmer voller Diddl-Mäuse mit ihrem Sohn verkuppeln. Und da war jene Nacht bei einem jungen Mann, der im Campingbus lebt und ihn neben dem Kanzleramt geparkt hatte. „Die Spirituelle in Mahlsdorf mit dem fetten Dackel und den Kristallkugeln“ legte selbst gebastelte Tarotkarten. „Die glaubte daran, dass ein mentales Wesen zu ihr spricht und sie 2013 den Friedensnobelpreis gewinnen wird.“ Hatte Christine Neder dort keine Angst? „Ich hab’ mich nicht so wohlgefühlt, aber mir ist erst drei Tage später aufgefallen, wie seltsam das alles war.“ So ganz fremd kam es ihr auch nicht vor: „Ich hatte mit 17 eine Hexenphase.“ Wahrscheinlich muss man für ein Projekt wie ihres eben offen für alles sein.

Alles bis auf eins – Sex: Die zierliche Blondine ist ziemlich genervt, dass so viele sie danach fragen. Nein, das komme nicht infrage, sagt sie inzwischen, bevor irgendjemand die Sprache darauf bringen kann. „Ich habe diese Idee, das Gute im Menschen zu suchen.“ Das machen ihr einige Leute ganz schön schwer. „Beim nächsten Mal sehen wir Dich bei Aktenzeichen XY“, hat jemand unter einen ihrer Beiträge im Internet geschrieben. „Ich hoffe, dass dir etwas passiert“, ein anderer. Damit solche Drohungen nicht wahr werden, schickt sie jeden Abend Freunden oder ihrer Familie eine SMS mit der Übernachtungsadresse.

So sammelt Neder Erfahrungen, Stadtteile und Fotos von Details in den Wohnungen und noch mehr „Freunde“: Alle Gastgeber müssen in ein paar Zeilen in ein rosa „Prinzessin-Lilifee-Freunde- Buch“ schreiben. „Ficken“ hat der einzige wirklich unangenehme Gastgeber in der Rubrik „Lieblingsbeschäftigung“ dort eingetragen. Aber dazu sei er an jenem Abend glücklicherweise zu bekifft gewesen, erzählt Christiane Neder. Er hätte übrigens auch einfach folgenden Satz ankreuzen können: „Am liebsten mag ich alles, was rosa ist.“ Und die Bettensurferin hat inzwischen herausgefunden, dass sie Friedrichshain am liebsten mag. Da will sie hinziehen, wenn die 90 Tage vorbei sind. Daniela Martens

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