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Perspektivwechsel. Normalerweise warten die Fans von Sebastian Lehmann vor dem SO 36, um ihn und die anderen Autoren der „Lesedüne“ live zu erleben.

© Thilo Rückeis

Literarische Reihe „Lesedüne“: Der Mann von der Leser-Show

Sebastian Lehmann füllt mit der „Lesedüne“ regelmäßig das SO 36. Bei einer Runde durch Kreuzberg erzählt er, warum er nur hier Uraufführungen bringt – und gern im ICE schreibt.

Regen in Kreuzberg. Erst kurz und heftig, dann sachte aber ausdauernd. Jugendliche mit ihren Dönern quetschen sich unter das Vordach der Imbissbude auf dem Heinrichplatz, essen einhändig, die andere Hand in der Hosentasche. Ein paar Schritte weiter, auf den Treppenstufen des SO36 in der Oranienstraße, steht Sebastian Lehmann. „Club mit Liveauftritten und Diskokugeln“ – so wird das SO36 auf Google-Maps beschrieben.

Von der Diskokugel über dem Eingang tropft es herab auf Lehmann. Der 37-Jährige hat Liveauftritte im SO36. Genauer: eine Lesebühne, genannt „Die Lesedüne“. Jeden zweiten und vierten Montag im Monat stehen sich die Gäste die Füße platt unter der Diskokugel vor der Tür – viele vergeblich, die Shows sind oftmals ausverkauft. Und das bereits seit 2005.

Schwerpunkt auf Systemkritik

Lehmann hat die literarische Reihe mit Schwerpunkt auf Systemkritik mitgegründet. Er kam aus Freiburg nach Berlin und lernte beim Literaturstudium Marc-Uwe Kling und Kolja Reichert kennen. Die Drei gründeten eine Wohngemeinschaft und ein Jahr später die Lesedüne – damals noch in der Strandbar „Kiki Blofeld“, die es heute schon nicht mehr gibt. Die Texte für die Bühne wurden in der WG geprobt und handelten teilweise auch von dort.

Damals hatte Kling sein berühmtes Känguru allerdings noch nicht erfunden, sondern studierte Philosophie. Seine erfolgreichen Bücher „Känguru-Chroniken“ brachten auch der Lesedüne später zusehends Ansehen.

„Eigentlich hatte ich gedacht, ich würde Journalist werden.“ Lehmann beginnt, von der Zeit als Student zu erzählen und geht los, den Regen ignorierend. Feierabend in Kreuzberg, ein Bus spuckt Passagiere aus, Radfahrer schlängeln sich durch hupende Autos, Fußgänger drücken sich aneinander vorbei. Lehmann weicht gekonnt aus, während er spricht und schnell geht, bleibt dann stehen am Kottbusser Tor.

Düne-Bühne in der „Monarch“-Bar

Dort ist es für ihn einst ernster geworden mit der Literatur: in der „Monarch“-Bar. Die Düne-Bühne wurde dort noch besser besucht als im Kiki Blofeld. „Da ist mir aufgefallen: das ist vielleicht mein Beruf.“ Seine Abschlussarbeit über „Christian Kracht und das Verschwinden“ schrieb er trotzdem noch. Andreas Gläser, ein Berliner Lesebühnenurgestein, antwortete mal auf die Frage, ob man von Lesebühne leben könnte: „Ja – drei Wochen im Jahr.“

Lehmann hat Bücher veröffentlicht, macht Lesungen im Radio, schreibt Kolumnen und moderiert ein Mal im Monat die „Potshow“ in Potsdam. Zusammen mit Marc-Uwe Kling und Maik Martschinkowsky liest er im Grunde die Texte vor, die schon auf der Lesedüne präsentiert wurden. Denn dort, und nur dort, finden die Uraufführungen seiner Geschichten statt.

Berlin ist die Hauptstadt der Lesebühnen

Denn das Publikum in Kreuzberg ist laut Lehmann anspruchsvoll. Motto: „Zeig uns, warum wir hier sitzen und nicht auf einer der anderen zahlreichen Lesereihen in der Umgebung.“ Berlin ist die Hauptstadt der Lesebühnen. „Man kann hier sehr gut alles ausprobieren. Wer Texte lesen will, wird immer eine Bühne dafür finden oder kann sogar selbst eine gründen“, sagt der 37-Jährige. Er schaut hoch zum „Monarch“, die Bar befindet sich in einer oberen Etage. Ein paar Tauben heben ab.

Schreiben im ICE ohne Wlan

„Früher wurde auf Lesebühnen mehr getrunken“, sagt er nachdenklich. Heute gibt es bei ihm fast nur noch Alkoholfreies. Auch auf seinen zahlreichen Lesereisen, meistens in Süddeutschland. Lehmann schreibt oft im ICE. Dort sei es schön ruhig und es gebe kein Wlan, das ihn vom Dichten ablenken könnte. „Ich hoffe, die Deutsche Bahn bekommt es nie hin, eine vernünftige Wlan-Verbindung einzurichten, sonst kann ich nicht mehr schreiben.“ Er lacht und setzt seinen Weg fort.

Der Regen ist zu einem nassen Vorhang geworden, die Klamotten sitzen klamm an der Haut. Es sind kaum noch Passanten auf dem Gehsteig, Autos rasen durch Pfützen. Lehmann geht die Skalitzer Straße entlang bis zum Schlesischen Tor, dann weiter zum „Lido“ an der Ecke zur Cuvrystraße. Ein, laut Google-Maps, „angesagter Ort für Livemusik und Cocktails“.

In der Schlesischen Straße sind die überdachten Sitzgelegenheiten vor den Bars bereits gut gefüllt. Eine junge Frau hüpft mit Champagnerglas in der Hand über die Straße, ein Taxi rauscht hupend an ihr vorbei.

Kreuzberg-Slam im Lido

Im Lido findet der Kreuzberg-Slam statt. Diesen hat Lehmann über zehn Jahre lang moderiert. Denn auch er kommt, wie so viele Lesebühnen-Autoren, aus der Poetry-Slam Szene. Diese sei sehr familiär und freundlich, sagt er. Eine Handvoll Leserinnen und Leser treten gegeneinander an, das Publikum entscheidet, wer eine Runde weiterkommt bis zum Last Man Standing. Lehmann ist da raus. Wenn er noch mitmachen würde, wäre es, als würde er mit einer Bazooka zu einer Messerstecherei erscheinen.

Bei einer Lesebühne hingegen teilen sich eine Handvoll Autorinnen und Autoren die Bühne, lesen abwechselnd. Doch Lehmann füllt auch alleine die Hallen. Seinen ersten ausverkauften Soloauftritt in Berlin hatte er im Mehringhof-Theater im Februar. Dort wird er nun wieder gastieren, am 29. und 30. November.

Eines scheint Lehmann ein bisschen zu vermissen in Berlin: Die Gärten seiner Geburtsstadt im Breisgau. So hat er sich mittlerweile einen Kleingarten im Berliner Umland zugelegt. „Das Coole am Osten ist ja, dass man sich auch als Schriftsteller noch ein sehr kleines Landhaus am See leisten kann“, sagt Lehmann und verabschiedet sich. Dann hört es auf zu regnen.

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