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Während einer Pandemie mal wieder so richtig schön shoppen zu gehen. Nicht unbedingt die beste Idee. 

© Odd ANDERSEN / AFP

Lockerung der Corona-Maßnahmen: Etwas zu dürfen, heißt nicht, es machen zu müssen

Niemand kann die Folgen der Corona-Maßnahmen vorhersehen. Wichtig ist das Signal, das von der Politik ausgeht – und die Reaktion der Bürger. Ein Kommentar. 

Ein Kommentar von Lorenz Maroldt

Leicht hat der Senat es sich nicht gemacht. Fünf Tage nach allen anderen Ländern beschloss auch Berlin eine neue Corona-Verordnung auf Basis der Eckpunkte, auf die sich das „Corona- Kabinett“ der Kanzlerin vergangene Woche mit den Ministerpräsidenten geeinigt hatte. Fünf Tage lang konnte der Senat beobachten, wie der Wunsch nach einem einheitlichen Handeln zerpflückt wurde. Fünf Tage lang konnte der Senat die Wechselwirkung zwischen abflachender Neuinfektionskurve und steil steigender Leichtsinnigkeit beobachten.

Fünf Stunden diskutierte der Senat am Dienstag über die Berliner Linie. Es war der Tag, an dem das Robert-Koch-Institut meldete: Die Corona-Ansteckungsrate in Deutschland steigt wieder.

Es bleibt das große Dilemma der Politik, dass niemand, kein Virologe, kein Politologe (und kein Astrologe), die Folgen der Corona-Maßnahmen sicher vorhersehen kann – weder die gesundheitlichen, noch die sozialen. Erst im Nachhinein sind alle schlauer. Aber nach den bisherigen Erfahrungen lässt sich ableiten: Nicht eine einzelne Einschränkung oder eine einzelne Lockerung ist entscheidend. Wichtig ist das Signal, das insgesamt von der Politik ausgeht.

Auch so erklären sich manche Kompromisse des Senats, die kaum miteinander in Einklang zu bringen sind. Sie sind nicht getragen von Erkenntnis, sondern von Hoffnung. Nur so ist auch zu erklären, wie sehr einige der Senatoren am Dienstag in Berlin für Lockerungen der Maßnahmen und erweiterte Öffnungsregelungen gekämpft haben. Wozu eine neue Verordnung die Menschen verführt, war zu Beginn der Woche dort zu erleben, wo sie bereits in Kraft ist: Die Straßen füllen sich rasch, und die Leute stehen überall dort an, wo ihnen der Anschluss an ihr altes Leben vor Corona verkauft wird.

So ändert sich die Welt mit Corona

Nein, der Senat hat es sich nicht leicht gemacht, bis zuletzt wurde um Zeiten und Zahlen gerungen, nicht in jedem Punkt gab es Einvernehmen. Angela Merkel, von der Ausbildung als Wissenschaftlerin her eher der Ratio als der Emotion verpflichtet, würde das angesichts von Warnungen der meisten Virologen wohl eine „Öffnungsdiskussionsorgie“ nennen.

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So ändert sich die Welt mit Corona. Bis vor Kurzem wäre das schlicht unter „Demokratie“ durchgegangen: Rede, Gegenrede, Kompromiss, Entscheidung, und wenn nötig Reform. Nur, dass unter Corona die Fehler nicht bloß fatal, sondern auch letal sind – und dass Reformen nicht alles heilen können, was zuvor falsch entschieden wird.

Das Signal, das von den neuen Regelungen des Senats ausgeht, ist deshalb ein dreifaches. Erstens: Wir wissen auch nicht so genau, was richtig ist. Zweitens: Wir trauen uns trotzdem was zu (auch wenn es aus Angst oder Sorge oder aus Feigheit geschieht). Drittens: Ohne euch kann das alles nicht funktionieren.

Die Exekutive regiert durch

Die Verantwortung gibt die Politik so zu einem erheblichen Teil an diejenigen weiter, die strukturell machtloser sind als je zuvor in der Bundesrepublik. Die Exekutive regiert überall durch, die vorgesehene Kontrolle durch Parlamente („Volksvertreter“), Opposition und zum Teil auch die der Medien ist wegen der Umstände (die Einschränkungen betreffen auch den Politikbetrieb) und des hohen Tempos der Entscheidungen nur unzureichend möglich.

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Die Bürgerinnen und Bürger, seit gut einem Monat in Teilquarantäne, sollen „vernünftig“ umgehen mit den neuen, alten Möglichkeiten. Ist das jetzt mutig, verzweifelt oder naiv?

Fulltime-Homeoffice mit Kleinkind grenzt nach vier Wochen an Körperverletzung, danach beginnt die Folter. Wer das erlebt hat, gesteht nahezu alles, auch die Ausübung des hedonistischen Rechts, während einer Pandemie mal wieder so richtig schön shoppen zu gehen. Aber zur Freiheit, die mit der körperlichen Unversehrtheit einen Grundgesetzstreit führt, gehört die selbstbewusste Selbstbestimmung: Etwas zu dürfen, heißt nicht, es machen zu müssen.

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