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Berlin: Lügen haben lange Nasen

Auch nach 125 Jahren hat Collodis Geschichte von Pinocchio nichts an ihrer Faszination eingebüßt Die Komische Oper hat sie als Singspiel mit Profisängern und dem Kinderchor einstudiert

Manches Abenteuer endet im Schlamassel. Halb erfroren wird Pinocchio von einer Fee gefunden. Nur bittere Medizin kann ihn noch retten, trotzdem wehrt er sich mit faulen Ausreden. Doch mit jeder Lüge wächst seine Nase. Die Fee hält ihm einen Spiegel vor und singt: „Du glaubst, ich durchschau dich nicht, dabei steht es dir im Angesicht.“ Pinocchio (Karen Rettinghaus), die zum Leben erwachte Holzpuppe des Schnitzers Geppetto und Hauptfigur der gleichnamigen Kinderoper, die heute in der Komischen Oper Premiere hat, gelobt Besserung – und verstrickt sich dennoch wieder in neue Gefahren.

Es ist diese verführerische Kraft von Abenteuern jenseits der Alltagspflichten, die an Carlo Collodis 125 Jahre alter Geschichte noch immer fasziniert – Erwachsene wie Kinder. Beispielsweise die neunjährige Charlotte Schetelich und den zehn Jahre alten Berk Kavasoglu aus Mitte, die zu dem 60-köpfigen Kinderchor der Komischen Oper gehören. Lieber würden sie, ähnlich wie Pinocchio, in den Zirkus oder in ein Land voller Autos gehen als in die Schule. Doch an ihrem Stück sehen sie, dass alles Verführerische schnell ins Unangenehme, ja Bedrohliche kippen kann: zum Beispiel, als Pinocchio von Kater und Fuchs, die seine Dukaten zu mehren versprechen, betrogen wird. Oder die Schulkinder im Schlaraffenland plötzlich in Esel verwandelt werden.

Im Mittelpunkt der Inszenierung von Jetske Mijnssen steht aber nicht der erhobene Zeigefinger, wie es die mit jeder Lüge wachsende Nase erwarten lässt, sondern der Weg des heranwachsenden und dabei reifenden Abenteurers. „Pinocchio ist hier eine Art Parsifal, der durch Mitgefühl wissend wird“, sagt die niederländische Regisseurin. So erkennt die Marionette, dass nicht nur ein Herz in ihrer hölzernen Brust klopft, sondern sie damit auch wahre Liebe für ihren Vater fühlt.

Die Kinderoper von Pierangelo Valtinoni wurde bereits 2001 in Vicenza uraufgeführt. In Italien ist Pinocchio eine Nationalfigur, der Stoff eine Geschichte für die ganze Familie. Dieses Spektakel wurde für die Berliner Neufassung dramaturgisch gestrafft und szenisch erweitert. Seit dem Frühjahr probt der Chor unter der Leitung von Christoph Rosiny. Viele der Kinder zwischen sechs und 16 Jahren singen schon seit Jahren und machen auch daheim Musik – Berk spielt Geige, Charlotte Klavier. Vor sieben Wochen begann ein intensives Proben mit den Profimusikern. Charlotte guckt sich seither fast jeden Abend die heiklen Passagen noch einmal an. Berk trällert täglich auf der Toilette und vor dem Zähneputzen.

Regisseurin Mijnssen und die musikalische Leiterin Anna-Sophie Brünings wissen dennoch um den Abstand zwischen ihnen und den Profis: „Die Kinder stolpern, sind aufgeregt, da müssen auch die Musiker im Orchestergraben manchmal schmunzeln“, erzählt Brünings. Bläser und Streicher warten oft minutenlang konzentriert auf ihren Einsatz, während der Kinderchor noch immer wie ein Bienenschwarm summt. Mijnssen hat jedoch bewusst nur die Hauptrollen mit professionellen Sängern besetzt. Sie möchte Oper „mit Kindern für Kinder“ machen, ohne die wohlwollende Geste „wir bieten euch was an“.

Die Kinder haben deshalb viel Freiheit auf der Bühne. Sie müssen nicht einfach strammstehen und singen, sondern sie lernen, vor einem Publikum zu tanzen und in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Charlotte ist mal Clown, mal Dr. Eule, Esel oder Fisch, Berk spielt einen Schuljungen, einen Gendarmen und einen Piraten. Rund 20 Maskenbildner schminken die Kinder blitzschnell um. Weitere zehn Betreuer helfen ihnen, auf der Bühne sofort die richtige Position zu finden. Jetske Mijnssen glaubt fest an ihren Auftritt: „Die Kinder spielen so groß, das funkelt von der Bühne.“

„Pinocchio“ in der Komischen Oper. Die Premiere heute um 16 Uhr ist ausverkauft, weitere Aufführungen am 10., 12., 19., 26. und 27. November sowie am 10., 11. und 17. Dezember. Karten unter Tel. 47 99 74 00.

Silke Laux

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