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Berlin: „Man muss die ganze Stadt mitnehmen“

Ex-Fraktionschef Ratzmann: Grüne müssen alle Gruppen ansprechen, nicht nur die eigene Klientel.

Die Grünen stellen mit Fritz Kuhn erstmals den Oberbürgermeister einer Landeshauptstadt. Was können die Berliner Grünen davon lernen?

Das es sich eben doch lohnt, sich um die Wähler des bürgerlichen Lagers zu bemühen und ihre Anliegen ernst zu nehmen. Da hat sich einiges verändert und sich vieles auf uns zubewegt. Klar zu bleiben, in den Zielen und Werte orientiert.

Was bedeutet das?

Man muss die ganze Stadt mitnehmen und das Gespräch und den Austausch mit allen suchen. Wenn man ein Spitzenamt haben will, kann man sich nicht nur einseitig auf eine Klientel stützen. Realpolitik bedeutet, nicht nur mit Ordnungspolitik und Vorgaben weitreichende Ziele zu verfügen, sondern anzuknüpfen an dem, was Menschen auf den Nägeln brennt und dafür auch Lösungen zu präsentieren.

Der Realpolitiker Ratzmann sieht Stuttgart als eine Ermutigung für Berlin?

Ich fühle mich insofern bestätigt, dass da zum zweiten Mal so ein Konzept zum Erfolg geführt hat. Die Grünen müssen sich genau anschauen, wie zukünftig Wahlkämpfe ablaufen müssen und auch Angebote aussehen müssen, die wir wir machen. Die Nähe zur Wirtschaft, ein realistisches Konzept für soziale Gerechtigkeit, die ökologische Frage und die Finanzen, das ist eine Matrix, auf der sich eine erfolgreiche Politik aufbauen lässt.

In Berlin muss man mehr Angebote an andere Bevölkerungsgruppen machen?

Stuttgart ist für die Grünen noch mal ein Meilenstein. Da tut sich eine neue Gestaltungsoption auf, was die Großstädte angeht. Damit muss man aber auch sehr vorsichtig umgehen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass man mit ordnungspolitischen Ansagen von oben herab keine Politik machen kann. Es geht immer darum, die Menschen zu überzeugen, sich auf gesellschaftliche Prozesse einzulassen. Nur dann gelingt es aus einem Amt heraus, die Gesellschaft zu verändern. Wir haben im Augenblick die besten Chancen, weil die ökologische Frage angekommen ist in den Privathaushalten und den Unternehmen.

Hat sich das bürgerliche Lager verändert?

Ja. Gerade der ökologische Umbau, der ökologisch-technischen Fortschritt, aber auch die Bürgerbeteiligung sind Themen, die alle umtreiben. Grüne haben auch bewiesen, dass wir eine seriöse und solide Haushaltspolitik machen. Es ist falsch, mit hohen Verschuldungen gesellschaftlichen Entwicklungen hinterherzuhecheln, sondern die Haushaltskonsolidierung ist ein wesentliches Anliegen.

Vor einem Jahr, als Kretschmann der erste grüne Ministerpräsident wurde, gab es in Berlin Euphorie. Diese Erwartungen haben sich bei der Berliner Wahl nicht erfüllt – weil das Konzept hier nicht funktioniert?

Nein, das Konzept halte ich nach wie vor für richtig. Wir sind mit unseren Ideen schon in der Mitte der Gesellschaft angekommen, müssen das aber in einen Politikstil umsetzen. Wir haben bei der Berliner Wahl ein supergutes Ergebnis erzielt...

Supergut war das nicht, es war weit schlechter als erhofft.

Es war schlechter, es war aber erheblich besser als bei der vorherigen Wahl. Ich will das aber nicht schönreden. Wir wollten mehr und waren enttäuscht. Ganz klar. Wir konnten unseren Ansatz – sehr radikal zu formulieren, was die Stadt an Veränderung braucht, und gleichzeitig realistische Angebote machen – nicht richtig vermitteln.

Was hat Kuhn besser gemacht als Künast?

Die beiden Wahlkämpfe sind kaum zu vergleichen. Er hat scheinbar alles richtig gemacht bei den Themen, die in Stuttgart gewollt und gewünscht sind. Er hat einen Marathon hinter sich, hat sich seit Februar voll eingelassen und war nur noch in Stuttgart unterwegs.

Renate Künast war nicht immer in Berlin unterwegs.

Ich will nicht anfangen, welche Fehler wir gemacht haben. Wichtig ist, dass Fritz Kuhn die Mehrheit überzeugt hat, während das bürgerliche Lager dort nicht den richtigen Kandidaten und nicht das richtige Konzept hatte. Besonders freut uns, dass die Stuttgarter nicht auf die Unterstellungen hereingefallen sind, etwa zu Tempo 30 oder City-Maut – wie es hier in Berlin im letzten Wahlkampf passierte. (Siehe auch Seite 4)

Interview: Gerd Nowakowski

Volker Ratzmann trat als Fraktionschef von Bündnis90/Grüne nach den geplatzten rot-grünen Koalitionsgesprächen zurück. Er arbeitet für die Landesvertretung Baden-Württemberg.

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