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Berlin: Manfred Engelbrecht (Geb. 1927)

Sein Zeigefinger glich eher einem Komma als einem Ausrufezeichen

Aus einer Nische des mit Büchern, CDs und Zeitungsstapeln angefüllten Arbeitszimmers zieht ein Sohn eine Holzkiste hervor. Darin schichten sich, sorgsam glatt gestrichen, Bögen jenes bunten Seidenpapiers, in das früher die Apfelsinen gewickelt waren. Mit dem Sammeln von Apfelsinenpapier genehmigte sich der Pfarrer Manfred Engelbrecht eine kleine Naivität, ein wenig Kitsch bei seinem ansonsten sehr kritischen Verhältnis zur Welt und zu der eigenen Biografie.

Seinen Kindern erzählte er, wie er beim Hänseln eines jüdischen Mitschülers mitgemacht hatte, „Jude Itzik!“, schrien sie. Wie die jüdische Freundin seiner Mutter nicht mehr zu Besuch kommen mochte, nachdem sie die HJ-Uniform seines Bruders erblickt hatte.

Und wie er zusammen mit Schulfreunden auf einem Dach in Moabit die Flak bediente, bis einer tot neben ihm zusammenbrach und ihn selbst ein Granatsplitter in den Unterschenkel traf. Wie er danach nicht mehr teilhaben wollte an dem Krieg und doch weiter musste, an die Ostfront, bis die Zehen erfroren und russische Soldaten ihn ins Gefangenen-Lazarett brachten.

„Wieder einmal einer, der abging. Nun liegt er vor dem Fenster, zugedeckt. Über seinen Kopf hinweg wird Tabak und Brot verteilt“, schrieb er in sein Kriegsgefangenen-Tagebuch.

Tabak und Brot, wofür? Die Antwort konnte jetzt nur noch heißen: Um die Welt besser zu machen, um dafür zu sorgen, dass nie wieder jemand „Jude Itzik“ schrie und nie wieder Krieg ausbrach.

Dass er Pfarrer werden wollte, wusste er schon früh. Seine Mutter war Gemeindemitglied der Bekennenden Kirche in Dahlem und hatte ihn dort konfirmieren lassen. Er studierte Theologie bei Lehrmeistern wie Karl Barth und Hans Joachim Iwand.

Als die Wiederaufrüstung beschlossen wurde, protestierte Manfred Engelbrecht, indem er sich für eine Pfarrstelle im Ausland bewarb.

Die Apfelsinenpapiere, vielleicht stehen sie für die Sehnsucht nach einem bunteren, wärmeren Land, nach einer freundlicheren Geschichte.

Er wurde nach Argentinien entsandt. Faschismus auch hier, deutsche Nazis auch hier, und doch fühlte Manfred Engelbrecht sich wohl, führte er mit den Exilanten Gespräche, die in Deutschland unmöglich gewesen wären.

Seine Verlobte, eine Kirchenmusikerin, folgte ihm nach. Sie lernten das Mate-Trinken und das Asado, bekamen die ersten drei ihrer sieben Kinder.

Zurück in Deutschland übernahm er die Gemeinde in Neu-Westend. Und freute sich über die Studenten, die Risse in den Panzer deutscher Selbstgerechtigkeit zu schlagen begannen. Nach dem Tod Benno Ohnesorgs stellte er ihnen die Kirche für eine Protestversammlung zur Verfügung und ließ Rudi Dutschke auf die Kanzel. „Wir dürfen die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, heute Abend etwas über die Funktion der Kirche zu sagen“, rief dieser. „Ob sie noch festhält an den radikalen Zielen, die an ihrem Anfang standen: Frieden auf Erden und Wohlgefallen allen Menschen, der Zukunft einer Menschheit ohne Mühselige und Beladene, einer Menschheit der Versöhnung!“

Gemeindemitglieder schimpften, Reporter berichteten, aufgebrachte Leserbriefe erschienen: „Christus vertrieb einst Händler und Wechsler aus dem Vorhof des Tempels. Was würde er wohl denjenigen sagen, die aus den Kirchen Diskussionsräume machen, die sie mit Negerspirituals würzen?“

Manfred Engelbrechts Predigten waren lang und stets politisch. Manchmal hielt er dabei einen Zeigefinger in die Luft, den er so abkrümmte, dass er eher einem Komma als einem Ausrufezeichen glich. „Wenn eine Wirtschaftsordnung nur derart zynisch funktionieren kann, dann kann man doch nicht sagen, die Wirtschaftsordnung ist in Ordnung, nur die Menschen sind verkehrt.“

Seine Jugendgottesdienste stellte er unter Mottos wie „Gehorsamsethik in der Familie“. Seinem Sohn gestattete er, zum weihnachtlichen Jugendgottesdienst eine selbst gedrehte Schlachthof-Dokumentation zu zeigen, ein Kommentar zum bevorstehenden Festbraten.

Er half chilenischen Flüchtlingen, Arbeit und Unterkunft zu finden. Er suchte den Austausch mit den in Berlin lebenden Rabbinern. Er sorgte dafür, dass den erschossenen Deserteuren des Zweiten Weltkriegs am Erschießungsplatz nah der Waldbühne ein „Denkzeichen“ errichtet wurde und dass die Stadt mit dem Relief vor der Deutschen Oper an den Tod von Benno Ohnesorg erinnerte.

Er wollte Superintendent werden und wurde nicht gewählt. Er wollte noch einmal ins Ausland und durfte nicht. Zahmer machten diese Enttäuschungen ihn nicht. Er vermittelte zwischen dem Charlottenburger CDU-Stadtrat und den Hausbesetzern, fuhr als Seelsorger Einsätze, um Verzweifelte vom Selbstmord abzuhalten. Er beauftragte seine Kinder, den am Pfarrhaus anklopfenden Bettlern Brote zu schmieren, lud die beiden einsamsten Gemeindemitglieder alljährlich auf sein familiäres Weihnachtsfest.

Und doch hatte er am Ende das Gefühl, nicht genug getan zu haben. Er schaute sich um im Land und fragte sich, wo die Revolution blieb.

Geschwächt von einem Tumor, hörte er auf zu essen und zu trinken. Er ging bewusst in seinen Tod.

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