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Berlin: Manfred Pietsch (Geb. 1936)

Er baut Bilder. Immerhin ist er Bauingenieur

Kreativität. Der Ruf nach ihr mag hilfreich sein, von Zeit zu Zeit. Aber muss das Wort immerfort in die Welt posaunt werden, so gespreizt, als sei das Können in der Kunst nur Nebensache? Manfred Pietsch bezweifelt das. Kunstproduktion, sagt er, ist disziplinierte Arbeit, ist Handwerk und Übung.

Er geht hinaus, in die Straßen Berlins, in die märkische Landschaft, an die Ufer der Oder, zeichnet Details in sein Skizzenbuch, mit dem er zurückkehrt in sein Atelier am Gendarmenmarkt, wo er seine Bilder baut, Stück für Stück, ohne dass sie zu platten Abbildungen der Wirklichkeit werden. Bäume, Wasser, Himmel verschwimmen ineinander in durchscheinenden Aquarell- oder in kräftigen Temperafarben. Oder seine Stillleben, Dinge, die ihn umgeben, die man Tag für Tag sieht und nicht anschaut. Es ist der präzise Blick, ohne den Kunst nicht auskommen kann.

„Ich habe genauer hingeschaut“, schreibt er, „habe gesehen, was man nicht so im Vorübergehen sieht, habe mich darin versunken, verloren Geglaubtes wieder entdeckt, habe versucht, den Sinn zu erfassen, um so die Schönheit des Augenblicks, das Anregende der Situation, die mich umgebende Harmonie und Stille wahrzunehmen, zu erkennen, und sie nicht nur im Bild, sondern auch in meinem Inneren festhalten zu können.“

Verloren Geglaubtes wiederentdecken und wiedererstehen lassen. Auch das ist Kunst für Manfred Pietsch. Die schlesische Landschaft, aus der er als Kind fliehen muss, mit seiner Mutter, seinen beiden Geschwistern, in ein Dorf in der Lausitz. Die Dorfbewohner, die die Flüchtlinge nicht wollen, ihnen zwei Eimer hinstellen, um Wasser im entlegenen Brunnen zu holen, obwohl es fließendes im Haus gibt. Das kleinbürgerliche Leben. Die Erinnerung an die Theaterabende in Breslau mit den Großeltern. Der Vater, zurück aus der Kriegsgefangenschaft, der das Künstlertum als Bummelantenleben abtut und dem Sohn, der eine Begabung zum Zeichnen zeigt, ein Bauingenieurstudium in Dresden verordnet. Und nicht ahnt, dass diese Stadt auch in zerbombtem Zustand seinen Kunstentschluss nur noch steigern wird. In Dresden kann er in die Oper gehen, in Konzerte und Museen. Er liest Goethe, Dante und Schopenhauer, hört Mozart und Boccherini, trinkt seinen Kaffee aus Meißener Tassen und speist nach einem Theaterbesuch gepflegt in einem Restaurant.

Kunst auch als Flucht also, vor Krieg und Verfolgung, und aus der Enge. Er malt Szenen aus der Mythologie: Persephone, die vier Monate des Jahres im Hades zubringen muss; Orpheus auf dem Weg in die Unterwelt, um Eurydike zu retten. Oder die vorgeblich arkadischen Motive: Nackte Männer und Frauen an Seen und unter Bäumen, deren Blöße ein Hinweis darauf ist, dass sie verletzlich sind – wie Menschen auf der Flucht.

Manfred Pietsch ist Polystilist. Er experimentiert, fertigt Stillleben, figürliche Darstellungen, Abstraktes, Collagen, kalligrafische Studien. Ursprünglich aber kommt er von der Naturbetrachtung und dem Stadtraum, hält die Veränderungen in Berlin fest, bis 1989 und seit 1989. „Bilder bauen“, die Formulierung stammt von ihm, immerhin ist er Bauingenieur. Weiß aber, dass er mit diesem Beruf nur einen Nebenpfad eingeschlagen hat. Er lernt von Grund auf alle Maltechniken, zieht nach dem Studium mit seiner Frau nach Berlin, arbeitet bei Hermann Henselmann, dem DDR-Chefarchitekten, bekommt einen Sohn, eine Tochter, lernt weiter, jetzt in Abendkursen an der Kunsthochschule in Weißensee und wird 1975 in den Verband bildender Künstler aufgenommen.

So lange seine Mutter lebt, sorgt sie sich um den Sohn: Ist das möglich, kannst du von der Kunst leben? Er kann. Und zwar ohne Staatsaufträge anzunehmen. Die Bürger der DDR, Apotheker, Ärzte, Hoteliers, kaufen seine Bilder. Einer Gruppe aber, einer Schule schließt er sich nie an. Rotwein trinkende Künstler mag er nicht, die nächtlichen Schwadroneure. Er arbeitet im Stillen, stetig und konzentriert. Malt auch Schrilles, Karnevalsszenen. Junge ausgelassene Leute feiern, meint man, schaut genauer hin und entdeckt Alte mit grell geschminkten, aufgerissenen Mündern. Oder das Thema der Maske. Auf einem der Bilder zwei Köpfe im Profil, vor ihnen zwei düstere venezianische Larven, betitelt mit „Vier Masken“. Hinter einer abgenommenen Maske – eine weitere?

Eine eigene setzt er eines Tages ab: Er liebt einen Mann. 30 Jahre verbringen sie gemeinsam. Drei Tage nach dem Fall der Mauer besuchen sie die Philharmonie, Daniel Barenboim spielt ein Beethoven-Klavierkonzert. Sie besuchen so schnell wie möglich alle Museen, denn wer weiß, wie lange die Mauer offen bleibt. Die finanzielle Situation der DDR-Künstler allerdings ändert sich abrupt, die Ateliermieten steigen, der Markt bestimmt den Wert der Werke. Manfred Pietsch arbeitet weiter, stellt aus, reist, trotz der Parkinson-Erkrankung.

Er sieht seine Kinder, beide anerkannte Musiker, die er immer bestärkt hat zu üben, sich nicht verführen zu lassen vom Gerede über Kreativität, und er ist froh.

Im Januar 2015 erfährt Manfred Pietsch, dass er Krebs hat. Sein Mann pflegt ihn, bis zum 24. Juli.

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