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Claudia Neumann (links), die Leiterin der Kita Bosestraße in Berlin-Tempelhof, und ihre Stellvertreterin Martina Heerwagen suchen noch dringend Mädchen und Jungen.So etwas haben sie noch nie erlebt.

© Marie Röverkamp

Mangel in einer Altersgruppe: Berliner Kita sucht verzweifelt Kinder

Eine Kita in Tempelhof hat ein für Berlin seltenes Problem: Sie sucht verzweifelt Nachwuchs, der im Jahr 2010 geboren worden ist.

Das Mädchen mit den schwarzen Haaren hält die kleine Tonfigur fest in der Hand. Sie hat das Werk aus einer Kiste gefischt und streckt es nun ihrer Nachbarin entgegen. „Das ist ein Junge“, sagt sie stolz. Logisch, sie hat selbst geformt. Ein Junge? Wie kann man nur so blind sein? „Das ist doch ein Mädchen“, blafft eine Vierjährige im roten Kleid zurück. „Die sieht nur aus wie ein Junge.“ Die Schwarzhaarige pfeffert beleidigt die Figur in die Kiste.

Gut, dann wäre das auch geklärt, und in der Maxi-Gruppe der Kita Bosestraße in Tempelhof herrscht kurzzeitig wieder Ruhe. Zehn Kinder rollen einen Kuchenboden aus Ton aus, schieben Autos über den Boden oder malen Figuren. Hier haben sie keine großen Sorgen.

Eine Tür weiter, in einem kleinen Büro, sieht die Situation ein bisschen anders aus. Kita-Leiterin Claudia Neumann sitzt an einem Tisch und seufzt: „So etwas haben wir noch nie erlebt.“ Wenn sie aus dem Fenster blickt, sieht sie den Bosepark, an der Wand hängen Kinderzeichnungen. Neben Neumann hat ihre Stellvertreterin Martina Heerwagen die Hände gefaltet und nickt zu Neumanns Worten. Sie ist seit 30 Jahren im Haus, aber so etwas ist auch für sie völlig neu.

Die Kita Bosestraße sucht Kinder – und findet keine. Das ist in Berlin eine bemerkenswerte Nachricht. Während in anderen Kitas die Verantwortlichen aufgelöste Eltern abweisen müssen, telefoniert Claudia Neumann verzweifelt dem Nachwuchs hinterher. Am Zaun hat sie sogar eine Art Hilferuf hängen, in leuchtendem Orange: „In unserer Kita sind ab August 2014 noch Plätze frei für Kinder, die im Jahr 2010 geboren sind.“

„2010“, das ist der entscheidende Punkt. Claudia Neumann zieht einen Karteikasten heran. „Wir haben genug Namen auf der Vormerkliste“, sagt sie. Nach letzter Zählung waren es rund 200. Aber die sind alle zu jung. Claudia Neumann braucht noch sechs Kinder, die im nächsten Jahr in die Maxi-Gruppen aufrücken. 110 Kinder sind insgesamt im Haus, davon sind 45 zwischen vier und sechs Jahre alt. Es geht um die Mischung, die Kinder müssen vom Alter her zusammenpassen. 27 Kinder benötigt Neumann fürs neue Kita-Jahr, 21 erst hat sie gefunden.

Dabei ist es meist umgekehrt: Kitas haben viel weniger Plätze als Interessenten. Die Kita Bosestraße gehört zu den öffentlichen Kindertagesstätten Süd-West. Deren Pädagogische Geschäftsleiterin Martina Castello verantwortet 37 Kitas, aber einen zweiten Fall Bosestraße, den kennt sie nicht. „Ich kann nicht ausschließen, dass es etwa in Reinickendorf noch so eine Situation gibt“, sagt sie. Aber in ihrem Bereich sei das alles andere als normal. Auch in der Kita Bosestraße schien es noch im Juli, als sei die Maxi-Gruppe voll. Feste Zusagen lagen vor. Aber die Eltern eines Zwillingspärchens blieben unerwarteterweise doch in ihrer alten Kita. Eine andere Mutter von Zwillingen erhielt angeblich keinen Kita-Gutschein, und einem Vater fiel 14 Tage nach der Zusage ein, dass er ja ab August nicht mehr in Berlin ist.

Claudia Neumann rief Kitas in der Umgebung an, man hilft sich, aber niemand hatte Vierjährige auf der Warteliste. Sie rief im Jugendamt Kreuzberg an, weil sie gehört hatte, dass sich dort Eltern gemeldet hätten, die noch eine Kita suchen. Für Claudia Neumann war niemand dabei. Sie rief das Jobcenter Tempelhof an, ein Tipp des Jugendamts Tempelhof. Dort könnte es Eltern geben, die noch eine Kita für ihre Vierjährigen suchen. Claudia Neumann fand niemanden.

„Früher hätten mir die Eltern noch in den Ferien die Bude eingerannt“, sagt sie. Jetzt herrscht Flaute. Aber die Zeit läuft ihr davon. Im September sollen alle Plätze belegt sein. Im Notfall muss sie zum letzten Mittel greifen: „Dann nehme ich Kinder in die Maxi-Gruppe, die eigentlich noch zu jung sind – aber zumindest schon so reif, dass sie keine großen Probleme bekommen.“

Die letzte Nachricht, die sie erhalten hat, war eine englischsprachige Mail. „Die Eltern ziehen erst im September nach Berlin“, sagt die Kita-Leiterin, „Aber sie melden ihr Kind jetzt schon an. Es bekommt einen Platz bei uns.“ Ein Kind, das 2010 geboren ist? Ein Wunschkind für Claudia Neumann also? „Nein“, sagt sie seufzend, „das Kind ist zweieinhalb. Aber ich nehme jetzt alles.“

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