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Berlin: Maren Beers (Geb. 1948)

Und manchmal stellte er sein Glas zur Seite, nahm sie in den Arm und tanzte mit ihr

Einmal im Jahr erzählten sie diese Geschichte, mindestens. Meist zu Marens Geburtstag, wenn alle da waren, die Kinder, die Enkelkinder und die Freunde. Irgendjemand gab ein Stichwort, und die anderen riefen: „Macht schon!“ und „Lasst euch nicht bitten!“

Die Geschichte handelte von Marens erstem Besuch bei Antons Eltern. Zusammen hatten sie an einem Nachmittag vor der Eichentür mit Buchsbaumkranz gestanden und noch einmal tief Luft geholt. Dann war die Tür aufgegangen und eine dürre Dame im fliederfarbenen Kostüm kam auf Maren zugetippelt, streckte ihr ihre bleiche Hand entgegen und rief etwas zu laut: „Kommen Sie herein, treten sie durch, dort rechts, der Salon, nehmen Sie Platz, eine Tasse Tee oder doch lieber Kaffee, Hermann, die Gäste sind da.“ Antons Vater erhob sich schwerfällig und sagte bei jeder Bewegung: „Ja, ja“, Antons Mutter wirbelte um den Tisch und legte jedem eine Cremeschnitte auf die hauchzarten Porzellanteller. Dann sprach sie ausführlich übers Wetter: Irgendwo auf der Welt sei es brütend heiß, woanders klirrend kalt, man könne von Glück reden, hier zu leben. „Ja, ja“, ergänzte ihr Mann. Zwei Stunden später standen sie wieder vor der Tür, Maren hielt eine in Papier gewickelte Cremeschnitte in der Hand. Sie sahen sich an und begannen zu rennen, mussten zwischendurch anhalten, weil sie vor Lachen nicht weiter konnten, rannten wieder und warfen die Cremeschnitte am Bahnhof in einen Papierkorb.

In Marens Familie hatte es Streuselkuchen gegeben, von einem großen verbeulten Blech. Ihr Vater hatte dazu ein Bier getrunken und Marens Mutter mit seinen öligen Klempnerhänden auf den Hintern gehauen, worauf sie kichernd in die Küche lief und eine zweite Flasche holte. Im Sommer stopften sie ein Zelt und Luftmatratzen und die drei Kinder in ihren Ford und fuhren an einen bayrischen See, bauten johlend das Zelt auf, das mindestens zwei Mal zusammenkrachte, bliesen japsend Luft in die Matratzen, brieten Kartoffeln im Feuer und zählten die Sternschnuppen.

Anton schenkte Maren später einmal einen Urlaub in einer toskanischen Ferienanlage. „Du musst dich um rein gar nichts kümmern, nicht einkaufen, nicht kochen.“ Aber Maren fand das Gehopse der Animateure absurd, den Chlorgeruch des Wassers und den Gedankenaustausch der Damen am Pool eine Zumutung. Sie wollte die Landschaft sehen und ihren Kaffee in den kleinen Bars zwischen den alten italienischen Männern trinken. Wollte am Morgen losfahren, ohne zu wissen, wo sie am Abend ankommen würde.

Sonntags, zu Hause in Berlin, stand sie vor allen anderen auf und lief über die Flohmärkte. Fand ein ramponiertes Tischchen, das sie neu lackierte, Lampenschirme mit Schäferidyllen darauf, einen Bauhaus-Aschenbecher, bunte Vasen und vergilbte Fotos. Anton schlug die Hände überm Kopf zusammen und half dann, ihre Ausbeute aufzustellen und anzuhängen.

In der Woche, am Abend, wenn sie von der Arbeit gekommen war – sie übersetzte technische Texte aus dem Italienischen und Französischen –, wenn sie das Essen gemacht und die beiden Kinder ins Bett gebracht hatte, goss sie sich und Anton ein Glas Wein ein, zündete sich eine Zigarette an und legte Ella-Fitzgerald- und Billie-Holiday-Platten auf, und manchmal stellte Anton sein Glas zur Seite, nahm sie in den Arm und tanzte mit ihr auf dem weichen Wohnzimmerteppich.

Eines Morgens, die Kaffeetasse noch in der rechten Hand, ertastete sie mit der linken ein winziges hartes Etwas in ihrer Brust. Das ganze grässliche Programm folgte: Operation, Chemotherapie, Angst, Hoffnung, Wut, Hoffnungslosigkeit. Anton besorgte einen Rollstuhl und schob sie über die Flohmärkte. Es setzte sie vorsichtig ins Auto und fuhr die lange Strecke bis hinunter in die Toskana. Er brachte sie ins Krankenhaus und holte sie wieder zurück, saß zwei Wochen an ihrem Bett und nahm sie noch ein letztes Mal in den Arm. Tatjana Wulfert

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