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„Mein Kommentar war mein Rücktritt – deutlicher kann man sich nicht äußern.“ Die damalige Brandenburger Bildungsministerin Marianne Birthler reagierte 1992 mit ihrer Amtsaufgabe auf die Vorwürfe gegen Manfred Stolpe. Bis März 2011 war sie Leiterin der Stasiunterlagenbehörde.

© Doris Spiekermann-Klaas

Marianne Birthler im Interview: „Neubewertung des Falls Stolpe"

Ex-Stasiunterlagen-Chefin Marianne Birthler über Brandenburg, das seine Chance zur Aufklärung nicht genutzt hat, weil das Thema immer mit dem Ex-Ministerpräsidenten Manfred Stolpe verbunden war.

Sie haben mal gesagt, Unrecht sollte benannt werden, vorher kann es keine Aussöhnung geben.

Das gilt im gesellschaftlichen wie im privaten Bereich. Wenn Unrecht geschehen ist, müssen die Karten auf den Tisch, bevor man sich wieder in die Augen schauen kann. Oft zeigt sich dann, dass es nicht nur Schwarz-Weiß gibt, sondern auch viele Grautöne. Aber entscheidend ist die Bereitschaft, dem, was war, offen zu begegnen und sich damit auseinanderzusetzen. Um der Opfer willen, denen wir das schuldig sind, muss Unrecht Unrecht und Recht Recht genannt werden. Aber das ist nicht nur eine Pflicht gegenüber den Opfern der Diktatur, sondern uns allen gegenüber, weil die Vergangenheit ein Teil von uns ist. Wenn wir da unredlich sind, dann sind wir unredlich uns selbst gegenüber. Dann beschädigen wir uns und unsere Kultur. Und wir würden damit unsere Kinder belügen.

Können Sie erklären, wie es dazu kam, dass die Überprüfungskommission den Beschluss des Landtags ignorierte, der bei Stasi-Mitarbeit die Rückgabe des Mandats empfahl?

Ich verstehe das heute so wenig wie vor zwanzig Jahren. Dass die große Chance zur Aufklärung nicht wahrgenommen wurde, hatte damit zu tun, dass in Brandenburg von Anfang an das Thema DDR-Vergangenheit mit dem Thema Stolpe verknüpft war. Stolpe hatte sehr viel Unterstützung, durch langjährige einflussreiche Gesprächspartner im Westen und durch die Brandenburger, die ihn liebten und verehrten. Auch die evangelische Kirche, die eigentlich verpflichtet gewesen wäre, beharrlich nachzufragen, hat zu ihm gehalten. Auch die Opposition im Landtag war zurückhaltend: Auf der einen Seite die PDS, auf der anderen die von Peter-Michael Diestel geführte CDU-Fraktion, die noch nicht weit von ihrer Blockparteien-Zeit entfernt war - da gab es kein hartnäckiges Nachfragen.

Die Untersuchungskommission hat sogar neue Kriterien erfunden wie die sogenannten Grenzfälle.

Grenzfälle gibt es tatsächlich immer. Ich habe von Anfang an dafür geworben, dass man eine sorgfältige Einzelfallbewertung vornimmt und dazu gehört auch, dass es Fälle gibt, die man nicht ganz klar einordnen kann. So war es auch bei den Lehrern in Brandenburg. Deswegen habe ich nichts gegen den Begriff Grenzfälle. Wenn er aber benutzt wird, um Sachverhalte zu vernebeln oder gar zu schweigen, dann ist das problematisch. Die Öffentlichkeit hat dadurch weniger Möglichkeiten, sich ein eigenes Bild zu machen. Wir haben damals in der Bündnis-90-Fraktion einen sehr klaren Schnitt gemacht, als die Überprüfung auch zwei unserer Abgeordneten traf. Wir haben uns dann gewundert, dass sich die anderen Fraktionen sehr zurückhaltend verhielten. Das ging weiter. Für den Bildungsbereich etwa hatten wir sehr sorgfältig ein rechtsstaatliches Überprüfungsverfahren entwickelt. Als ich das stolz im Kabinett vorstellte, hatte ich viel Interesse an einer Übernahme erwartet von anderen Kabinettsmitgliedern; stattdessen ging man kommentarlos zur Tagesordnung über.

Wir erfahren jetzt von vielen Fällen aus der Polizei und der Justiz, wo es früh Hinweise auf eine Belastung gab, und trotzdem nie was passierte. Auch der Landtag hat sich nie wieder selbst überprüft und erst seit kurzem gibt es eine Stasi-Beauftragte. Warum hat sich Brandenburg so schwer damit getan, die SED-Diktatur aufzuarbeiten?

Wie gesagt: Nach meiner Einschätzung gab es einen Zusammenhang zwischen der Art und Weise, wie in Brandenburg mit der SED-Diktatur umgegangen wurde und dem Fall Stolpe. Bei jeder offenen und offensiven Diskussion über die Vergangenheit hätte man doch keinen Bogen um das Thema Stolpe machen können. Die große Mehrheit in Brandenburg wollte aber genau dies. Dazu kommt, dass Stolpe jeden Angriff auf sich selbst als einen Angriff auf alle Ostdeutschen interpretierte. Dass ist ungefähr so, als wenn heute Guttenberg oder Koch-Mehrin jede Kritik an ihnen als einen Angriff auf alle Wissenschaftler bezeichnen würden.

Damit wurde die Auseinandersetzung mit der Diktatur zu einem Ost-West-Thema gemacht - eine fatale Fehlentwicklung. Die Revolution hat doch nicht gegen die Westdeutschen stattgefunden, sondern gegen die SED, und deshalb werden Konflikte zum Thema DDR heute - das zeigt ja auch die aktuelle Debatte in Brandenburg - vor allem zwischen Ostlern und Ostlern ausgetragen. Das Thema dem Westen in die Schuhe zu schieben, ist ein Versuch, sich um das Thema zu drücken. Das geht bis dahin, dass manche Leute meinen, die Öffnung der Stasi-Akten sei eine perfide Schikane des Westens gewesen, um den Osten zu demütigen. Das ist völliger Quatsch. Die Öffnung der Stasi-Akten musste vom Osten gegen den Westen durchgesetzt werden. Die Regierungen Kohl und De Maizière hielten wenig von einer offensiven Aufarbeitung. Sie wollten die Stasi-Akten nicht öffnen und betrieben eine Politik der Integration von alten Eliten. Personal aus der Administration der DDR wurde in Größenordnungen in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik und der Länder übernommen.

Warum sich Marianne Birthler nach ihrem Rücktritt zurückhaltend zum Thema Stolpe geäußert hat, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Nachdem Sie im Oktober 1992 als Ministerin zurückgetreten sind, weil sie die „Ausflüchte“ von Stolpe nicht mehr ertragen und mittragen wollten, haben Sie sich zurückhaltend zu Stolpe geäußert.

Mein Kommentar zu Stolpe war mein Rücktritt - deutlicher kann man sich wohl nicht äußern. Ich hatte mich schon früh sehr klar zu Stolpe geäußert, woraufhin er mir in einem Vier-Augen-Gespräch sagte, dass er erwarte, dass ich mich öffentlich nicht mehr äußere. Er berief sich auf die Loyalitätspflicht in seinem Kabinett. Ich habe ihm zunächst die Zusage gegeben, künftig zurückhaltend zu sein, aber wenige Tage später gemerkt, dass ich zu diesem Thema nicht schweigen kann. Deswegen der Rücktritt.

Seitdem haben Sie sich aber nicht mehr dazu geäußert.

Nein. In meiner Amtszeit als Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde habe ich bei Aktenanfragen im Zusammenhang mit Stolpe das immer meinen Mitarbeitern und meinem Stellvertreter überlassen. Ich wollte den Eindruck vermeiden, dass ich die Autorität des Amtes nutze, um alte Rechnungen zu begleichen. Diese Absicht hatte ich nicht. Mein abschließender Kommentar zu Stolpe war mein Rücktritt.

Aber für die Öffentlichkeit ist es schwer, das einzuordnen, weil Stolpe 1993 vom Untersuchungsausschuss des Landtags entlastet wurde und auch das Bundesverfassungsgericht ihm bescheinigte, dass er nicht als Stasi-IM bezeichnet wurde.

Ich bitte um Nachsicht, wenn ich so zurückhaltend bin. Aber ich weiß, dass jedes Wort von mir gegen Stolpe nicht nach seinem Sachgehalt geprüft wird, sondern anders ausgelegt wird: Von der ist nichts anderes zu erwarten, die ist jetzt nur obenauf, weil sie hofft, endlich ihre Genugtuung zu bekommen. Darauf habe ich keine Lust. Ich rolle hier nicht den Fall Stolpe auf. Das müssen andere machen. Ich glaube aber, dass Brandenburg auf Dauer nicht um eine Neubewertung des Falls herumkommt - außer man macht den Deckel drauf und sagt, wir reden jetzt nicht mehr über die Vergangenheit.

Hätte Matthias Platzeck als Stolpes Nachfolger als Ministerpräsident früher eine Stasi-Beauftragte einsetzen müssen?

Das wäre vernünftig gewesen.

Wird heute um die Deutungshoheit jener Zeit gekämpft, gerade weil 20 Jahre lang nichts passiert ist in Brandenburg?

Wer sich um schmerzliche Einsichten drückt in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, erreicht damit immer nur einen zeitweiligen Frieden. Es kommt irgendwann und meistens unerwartet doppelt heftig zurück. Das ist eine uralte Erfahrung, und das erlebt Brandenburg gerade.

Hat Sie überrascht, dass damals die Zustimmung für Stolpe in dem Maße zunahm, wie die Vorwürfe umfangreicher wurden?

Ich habe im Laufe dieses Falls einiges gelernt. Nämlich, wie eine Gesellschaft systematisch desensibilisiert wird. So war das auch in Brandenburg. Die Tatsachen über Stolpes Vergangenheit wurden ja scheibchenweise bekannt. Wenn das alles auf ein Mal gekommen wäre, dann wäre es schwierig für ihn gewesen.

Aber selbst die Debatte um den Verdienstorden der Staatssicherheit hat ihn nicht aus der Bahn werfen können.

Weil er behauptet hat, dass es kein Stasi-Verdienstorden war. Und die meisten haben ihm geglaubt - so unwahrscheinlich das auch war. Sie müssen außerdem sehen, dass Stolpe doch tatsächlich Menschen geholfen hat. Und seine große Verteidigungskonstruktion war, dass er mit der Stasi reden musste, um den Menschen zu helfen.

Um damit auch die Freiräume zu schaffen für die kirchliche Opposition.

Ich kenne viele Leute, die genau diese Argumentation übernommen haben und plausibel fanden. Wenn aber jemand Woche für Woche mit dem Teufel zusammensitzt und versucht, dem was abzuringen, was macht so jemand, wenn der Spuk endlich vorbei ist? Müsste der nicht den Wunsch haben, endlich darüber zu reden? Der Öffentlichkeit Aufschluss geben darüber, wie es wirklich war? Ein paar Innenansichten veröffentlichen? Nicht so Stolpe. In den 20 Jahren hat es meines Wissens kaum ein böses Wort oder gar erhellende Informationen über die Staatssicherheit von ihm gegeben.

Das Gespräch führte Gerd Nowakowski.

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