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Berlin: Mariluz Rico Arcos (Geb. 1962)

Manchmal muss sie ziehen, Freunde treffen, alleine tanzen.

Aufstrebende Spanischstudentinnen in Jeans und schlaffen Pullovern rascheln im Seminarraum mit ihren Collegeheften und mit Bonbonpapier, richten abrupt ihre Köpfe auf die Tür, durch die eine Dame tritt, dunkelhaarig, dunkeläugig, geschminkt und elegant gekleidet. „Ah“, murmeln die Studentinnen und drücken ihre Rücken durch. Die Dame aber stellt sich nicht an das Dozentenpult, sondern setzt sich zu ihnen. „Aha“, tuscheln die Studentinnen und rollen mit den Augen, „eine von diesen Frauen, die nichts zu tun haben.“

Sie irren sich. Mariluz hat viel zu tun, hat bereits viel getan in ihrem Leben. Allein nur an diesem Morgen: Sie weckte Levy, Elias und Ruben, drei, fünf und sieben. Bereitete das Frühstück. Brachte die Jungen in den Kindergarten. Ordnete ihre Seminarunterlagen und fuhr zur TU. Sie war stolz zu studieren. Denn in ihrer Biografie war ein Akademikerweg nicht vorgesehen. Als sogenanntes Migrantenkind kam sie mit acht nach Deutschland, nach Vechta, einer Enklave für Spanier in Niedersachsen, der Vater reiste den Arbeitsangeboten hinterher, seine Frau und die sechs Töchter folgten ihm. Mariluz lernte die fremde Sprache, übersetzte für die Eltern.

Weg hier, dachte sie nach Jahren in Vechta, weg hier und nach Berlin. Doch so einfach war es nicht. Sie hatte einen kleinen Sohn, David. Was sollte sie tun? Die Freiheit dem Kind vorziehen? In Vechta, bei den Großeltern, den Tanten, bei seinem Vater, gab es zumindest Geborgenheit für David. Mariluz entschied sich für Berlin, aber nicht gegen ihren Sohn.

Aus dem Kleinstädtischen heraus stürzte sie sich ins Großstädtische, eröffnete mit einer Freundin in Kreuzberg, Zossener Straße, einen Friseursalon. Sie nannten ihn „Medusa“ nach einer der drei Gorgonen mit Schlangenhaar, deren Blut Tote lebendig machen konnte, bei anderen tödlich wirkte. Die Inneneinrichtung des „Medusa“ war aus Schrott zusammengeschweißt, zwischen den konstruktivistischen Gusseiseninstallationen ließen sich die Kunden keine Dauerwellen legen, sondern die Haare asymmetrisch schneiden oder blau färben, von der seinerzeit jüngsten Friseurmeisterin Berlins. Mariluz mochte es, Menschen zu verzieren, zu verschönern, mochte es, mit ihnen zu reden. Sie unterrichtete an einer Berufsschule, bekam die unruhigen Jungs und Mädchen schnell in den Griff. Dieser Lehrerin hörten sie zu, diese Lehrerin war ein wenig wie sie.

Mariluz tanzte Flamenco, schneiderte die Kleider für ihre Auftritte selbst, fuhr einmal im Jahr nach Madrid, um dort mehr über den Tanz zu erfahren. Sie hatte viele schwule Freunde, traf sich bevorzugt in Schwulenkneipen, flatterte durch die Technoclubs, bis in den grauenden Morgen, lief dann direkt zur Arbeit.

Sie stellte Fragen, an ihre Freunde, an sich. Sie suchte keine einfachen, zweifelsfreien Antworten, so ist es nicht, das Leben.

1995 begegnete Mariluz Jakob. Jakob dachte: Oh, eine komplizierte Frau. Frauen mit schwulen Freunden sind immer kompliziert.

Am Tag darauf läutete es an seiner Tür. Da stand sie, mit ihrem Saxophon unterm Arm, und schlug vor, einen gemeinsamen Kaffee zu trinken, ein Stündchen hätte sie noch vor dem Musikunterricht.

Sie saßen beieinander, sprachen, überhaupt nichts Kompliziertes entdeckte Jakob an dieser schönen Frau. „Komm doch mit mir nach Dresden, morgen“, sagte er. Sie schwankte, nur einen Moment.

Mit einem Freund Jakobs verbrachten sie den Tag, liefen durch Dresden, tranken Wein, lachten. „Man spürt, dass ihr euch schon Jahre kennt“, sagte der Freund am Abend.

Mariluz und Jakob heirateten. Sie beherrschten das Spiel von Nähe und Ferne, er wusste, manchmal muss sie ziehen, ins Kino gehen, Freunde treffen, alleine tanzen. „Ich will nicht alt werden“, sagte sie zu ihm.

Nach zehn Jahren gab Mariluz das „Medusa“ auf, wollte etwas Neues. Sie wechselte zu einem stadtbekannten Coiffeur. Die Arbeit dort war hart und anspruchsvoll, selten kam sie pünktlich nach Hause, wo Jakob mit den Kindern wartete. Sie kündigte. Und engagierte sich im Vorstand eines Kindergartens. „Für dieses Projekt bekommen wir niemals Geld“, hörte sie fortwährend. „Ach“, antwortete Mariluz mit ihrer tiefen, weichen Stimme und machte sich auf den Weg zu verschiedenen Stiftungen. Einige Wochen später hatte der Kindergarten Geld.

Viel Verrücktes, Aufreibendes, Stilles, Schönes, Lebendiges, hätte Mariluz noch getan. Jäh aber kam der Tod, ein Gefäß in ihrem zarten Körper riss.

Kurz zuvor hatte sie erzählte, ein Mann, erheblich jünger als sie, habe mit ihr in der U-Bahn geflirtet. Vor einigen Tagen ist sie Großmutter geworden. Tatjana Wulfert

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