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Berlin: Marion Wirth (Geb. 1937)

Zu den Menschen, die sie mochten, war sie immer freundlich.

Der Bundesverband des Diakonisches Werkes der Evangelischen Kirche hat in Dahlem ehrwürdige Gebäude und gepflegte Rasenflächen. Es gibt einen Parkplatz, einen Springbrunnen mit Ruhebank, einen überdachten Fahrradschuppen und viele sorgsam gekleidete, überaus hilfsbereite Mitarbeiter.

An diesem zentralen Ort christlicher Nächstenliebe lebte Marion Wirth, ehemals Studentin der Theaterwissenschaft und Philosophie. Sie schlief auf dem Boden, im Fahrradschuppen, umgeben von Tüten, Jutetaschen und einem alten Koffer. Jeden Morgen zog sie mit ihrem Gepäck über den Parkplatz und den Rasen bis vor die Bibliothek, wo sie den Tag verbrachte. Abends ging sie den umgekehrten Weg. Der Umzug dauerte lange, weil es zu viele Tüten waren und Marion große Angst hatte, bestohlen zu werden. Sie nahm ein paar Sachen, trug sie einige Meter weiter, stellte sie ab, ging wieder zurück und holte die nächsten.

Vor der Bibliothek angekommen, richtete sie sich ein, ordnete ihre Habe, umhegte die Rose, die in einem Wasserglas neben ihr stand, beobachtete die Menschen und las den Tagesspiegel, den ihr jemand überlassen hatte. Meistens war Marion Wirth freundlich, wenn sie angesprochen wurde. Sie hat aber auch geschimpft und geflucht, besonders wenn jemand ihr kein Geld geben wollte oder sie aufforderte, wegzugehen von hier.

Das Leben mit Marion war nicht einfach. Sie ließ es an Dankbarkeit und Demut fehlen. Einige nannten sie „Schandmaul“, andere „eine Diva“, die meisten blieben auf Distanz. Die Studenten, die in der Bibliothek zu Themen kirchlicher Sozialarbeit forschten, fanden es sehr schlüssig, gleich am Eingang auf die praktische Seite ihrer Arbeit zu stoßen. Eine Italienerin freundete sich mit ihr an, besuchte sie an ihrem Schlaflager. Sie sagt: „Zu den Menschen, die sie mochten, war sie immer freundlich.“

Für die Dahlemer in ihren bürgerlichen Behaglichkeit war Marion eine Bewährungsprobe. Die Bettlerin, die ihre Armut öffentlich zur Schau stellte, ohne Scham. Sie forderte Unterstützung ein und lehnte jede organisierte Hilfe ab. Man stellte für sie ein Mietklo auf, aber die fensterlose Plastikzelle machte ihr nur Angst. „Wenn ich da reingehe, fangen sie mich.“ Um sie aus dem Fahrradschuppen zu locken, stellte man einen Schlafcontainer auf, aber dem vertraute Marion allenfalls ein paar ihrer Regenschirme an.

Eines Tages war der Fahrradschuppen zu. Marion zog um an den Hintereingang zur Küche. Dort war sie vor Wind geschützt, aber nicht vor Regen, der auch von der Seite kam, wenn der Rasensprenger früh am Morgen plötzlich seine Kreise zog. Sie sagte, die Kirche habe gar kein Recht, sie zu vertreiben. Das Gelände gehöre schließlich ihr.

Marion sei früher eine schöne Frau gewesen, erzählt man sich. Sie komme aus reichem Haus, ließ sie Vertraute wissen, ihr Bruder habe ihr das Erbe vorenthalten und anschließend verjubelt. Die Geschichte gab ihr das Recht, etwas mehr zu verlangen als die Mittel zum Überleben. Sie hortete CDs und Kassetten mit Musik von Beethoven und Mozart und benötigte stets frische Batterien für ihre Abspielgeräte. Kulturteil und die Spielplanbeilage der Zeitung waren ein Muss. Sie wusste, welcher Sänger in Berlin gastierte, wer durchgefallen war und welcher Kulturpolitiker sich erdreistete, wieder ein Theater zu schließen.

Morgens zog sie den Lippenstift nach, cremte die Haut ein, lackierte ihre Fingernägel und malte die Augenlider an. Ihre Kleidung waren keine Lumpen. Sie nahm nur Textilien an, die ihr gefielen, bevorzugt in den Farben Pink und Beige, gern mit Spitze. Auch die Regenschirme mussten farblich ins Ensemble passen.

„Ich bin Marion. Bitte machen Sie mir zwei Brötchen, Kaffee und einen Amaretto.“ So stand sie zum ersten Mal vor der Tür einer Frau, die sie schon von der Straße kannte. Sie hatte einen Blick dafür, wer ihr helfen würde. Von nun an kam sie regelmäßig, aß etwas, brachte ihre Kleider zum Waschen – und spielte auf dem Klavier Mozart-Sonaten.

Sie ließ sich zum Bahnhof Zoo fahren, wo sie persönliche Sachen in mehreren Schließfächern hortete. Auch ihre Dissertation war angeblich darunter. Gesehen hat sie aber nie jemand.

Mit den Jahren entstand ein Netzwerk von Adressen, wo Marion klingeln konnte und wusste, dass sie etwas Geld, ein Deospray oder einen Kaffee bekam, ohne sich jedes Mal bedanken zu müssen. Wenn ein Unterstützer starb, sagte sie dem Hinterbliebenen: „Jetzt müssen Sie mir helfen.“ Samstags bekam sie zwei hartgekochte Eier in der Altensteinstraße, am Mittwochmorgen ein Frühstück in der Habelschwerdter Allee, in der Ehrenberger Straße stand in der Frühe eine Thermoskanne mit heißem Wasser auf einem Zaunpfosten bereit.

Als sie noch studierte, verbrachte sie ihre Nächte auf einer Bank vor dem Institut für Philosophie. Sie fragte nicht nach staatlicher Unterstützung. Sie pumpte ihre Professoren an. In den Registern der Behörden war ihre Existenz bald erloschen.

Im Sommer kam Marion mit Magenblutungen ins Krankenhaus. Die professionelle Hilfsmaschinerie sprang an, zunächst stotternd, weil geklärt werden musste, wer diese Frau eigentlich ist. Als es ihr besser ging, kam sie in die Psychiatrie, wogegen sie sofort schriftlich Beschwerde einlegte. Eine Schizophrenie wurde diagnostiziert, vermutlich wegen Missbrauchs und Gewalt in früher Jugend, aber Marion verweigerte dazu die Aussage. Ein Vormund wurde bestellt, Sozialhilfe beantragt. Sie wurde in ein Heim eingewiesen, schön gelegen am Wannsee, mit einem Klavier. Aber die Tasten rührte Marion nicht mehr an.

Nach drei Tagen verschwand sie aus dem Heim und kehrte nach Dahlem zurück. Sie hatte abgenommen. Das Essen sei ungenießbar gewesen. Am 3. Oktober fand man sie leblos vor dem Philosophischen Institut der FU.Thomas Loy

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