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Stefan Komoß feierte Weihnachten im Kreis der Familie. Keine Selbstverständlichkeit für den Bürgermeister aus Marzhahn-Hellerdorf.

© Björn Kietzmann

Marzahn-Hellersdorf: Die zweite Chance des Bürgermeisters

Bei Stefan Komoß, Bürgermeister von Marzahn-Hellersdorf, wurde ein Hirntumor entdeckt. Die Ärzte gaben ihm noch acht Wochen - das war im Juli 2013. Jetzt feiert er fröhlich Weihnachten mit seiner Familie.

War das ein Morgenrot, als hinter den Plattenbauten jenseits des U-Bahn-Grabens die Sonne aufging! Stefan Komoß hat am Fenster seines Bürgermeisterbüros den Moment genossen und sich gefreut, dass er ihn noch erleben darf. So wie die ganze Weihnachtszeit, die ihm als gläubigem Christen mehr bedeutet als Powershopping bei Amazon. Das Finale eines Jahres, in dem er seine eigene Auferstehung feiern konnte. Als Bürgermeister von Marzahn-Hellersdorf verwaltet Komoß eine Großstadt mit 260 000 Einwohnern. Aber wer seinen Namen bei Google eingibt, dem schlägt die Suchmaschine als erste Ergänzung „krank“ vor.

„Angefangen hat es mit einem merkwürdigen Riechempfinden, immer einmal am Tag, eine halbe Minute lang“, erzählt Komoß in seinem Büro. Seine Hausärztin überwies ihn zur Neurologin; er ließ es schleifen, „wie das bei einem Mann halt so ist“. Eine Woche später telefonierte die Ärztin ihm im Büro hinterher: Ob er schon da gewesen sei? Auf diesen Anruf hin machte er endlich den Termin, auf den er keine Lust hatte, zumal er dafür nach Mitte musste, was ihm als Rathauschef und Bildungsstadtrat nie in den Kalender passte.

Es folgten ein MRT und der vage Hinweis, dass die zwei Wochen bis zum nächsten regulären Termin bei der Neurologin definitiv zu lang seien. Also ging Komoß schon nach zwei Tagen hin. Seine Frau war bei ihm, als ihm die Ärztin sagte, dass er den Oktober nicht mehr erleben werde. Das war Ende Juli.

Die Weltpresse schaute nach Hellersdorf, wo drei Straßen vom Rathaus entfernt Neonazis eine Anwohnerversammlung zum Asylbewerberheim gekapert hatten. Komoß hatte auf dem Podium gesessen, als Rechte zu pöbeln anfingen und Linke „Nazis raus!“ skandierten, sobald Nachbarn kritische Fragen stellten. Im Nachhinein erfuhr er, dass die Nazis von der NPD in Brandenburg rekrutiert worden waren und die Autonomen aus Richtung Kreuzberg kamen. Aber in den Schlagzeilen war Hellersdorf. Und Komoß war plötzlich weg.

Eine Operation im Unfallkrankenhaus Marzahn war seine einzige Chance, den Tumor im Kopf loszuwerden, der unbemerkt auf fünf mal fünf Zentimeter gewachsen war und jederzeit einen tödlichen Hirnschlag auslösen konnte. Allerdings barg die OP ein zehnprozentiges Risiko für Folgeschäden. „Bei einem Ausrutscher nach links wäre ich blind, bei einem nach rechts halbseitig gelähmt und bei einem nach oben ein anderer Mensch, weil da das Zentrum für die Emotionen sitzt“, erzählt Komoß. Der operierende Professor habe ihm vor dem Eingriff versichert, dass er in der CDU sei und es sich schon deshalb nicht erlauben könne, einen SPD-Politiker zu verlieren. Ärztehumor. Kein großer Trost für die Familie. Komoß’ Kinder, 19 und 21, waren ebenso fertig wie seine Frau. Und nachdem er seinen 75-jährigen Eltern die Nachricht überbracht hatte, fürchtete er vor allem um deren Leben.

Vorbereitet auf den Tod, aufgefangen durch Nächstenliebe

Hätte der Tumor Metastasen gebildet, wäre ihm bloß noch geblieben, sofort die Amerikareise mit seiner Familie anzutreten, die erst zu seinem 50. Geburtstag im nächsten April ansteht. So aber folgte auf die Operation die Reha und darauf die Bestrahlung, wiederum in Hellersdorf, bei einem ehemaligen Oberarzt der Charité. Ein Aha-Effekt: Dass sich solche Leute nicht nur in vorrangig privat versicherten Gefilden niederlassen. So schlimm kann es also um den Bezirk nicht stehen, der am Nabel der Welt, also grob gesagt zwischen Oberbaumbrücke und Zoo, als Pleiteplatte und Hartz-IV-Hort verrufen ist.

Privat fühlte sich Komoß als regelmäßiger Kirchgänger aufs Sterben einigermaßen vorbereitet. Nun fiel ihm auf, wie konsequent viele das Thema von sich fernhalten, obwohl es zu den wenigen unvermeidlichen Dingen des Lebens gehört. Und er sah, welches Glück Menschen vom Schlage seiner Hausärztin bedeuten. Aber auch Menschen wie seine Mitarbeiter im Rathaus. Die begrüßten ihn mit einer Art Hochzeitstorte, als er Anfang November zurückkehrte. Und wo er 1000 ungelesene E-Mails erwartete, waren nur zehn. Der Laden lief – übrigens unter Regie der Linken-Stadträtin Dagmar Pohle, der der Sozialdemokrat 2011 den Chefsessel abgerungen hatte.

Alltag: Schulschließungen und Seniorenheime

Komoß wohnt seit 17 Jahren im Bezirk, im bürgerlich-aufgeräumten Einfamilienhausgebiet Kaulsdorf. Manchmal sagt der gebürtige Karlsruher noch „Bürgermeischter“, aber das sähen ihm die Einheimischen nach. Vielleicht, weil ja fast alle hier zugewandert seien: 1979 hätten in den fünf Dörfern Marzahn, Kauls-, Bies-, Mahls- und Hellersdorf 40 000 Menschen gelebt. Zwölf Jahre später waren es 300 000, bei einem Durchschnittsalter von 24 Jahren. Als Komoß in die Gegend kam, war in Hellersdorf ein Gewirr betonierter Wohnstraßen, die von uniformen Fünfgeschossern und Spontanvegetation gesäumt wurden und an der Grenze zu Brandenburg einfach aufhörten. Schulen, Kitas und Kaufhallen gab es, ein Zentrum kam erst nach der Wende hinzu. Kaum war es fertig, waren die Arbeiter- und Bauernkinder erwachsen – und zogen weg.

2008 habe ihn der Bildungsstadtrat von Tempelhof-Schöneberg um Rat gefragt, weil dort zum ersten Mal seit dem Krieg eine Schule schließen musste, sagt Komoß. Er war mit 64 Schulschließungen der Routinier. Marzahn-Hellersdorf altert fast wie ein Mensch: 300 Prozent mehr Über-80-Jährige stellt die Bevölkerungsprognose bis 2030 in Aussicht. Nicht jede Schule taugt als Seniorenheim. Komoß deutet aus dem Fenster auf den kahlen Alice-Salomon-Platz: Während die einen vollständig abgesenkte Bordsteine für ihre Rollatoren fordern, klagen die anderen, dass sie die Bordsteine dann nicht mehr erkennen. Anderswo tauscht sich unter großer öffentlicher Anteilnahme die Bevölkerung aus. Hier aber sind die Kinder erwachsen geworden und die Eltern zu Greisen.

Komoß kann die Regie über diesen Feldversuch behalten. Bürgermeister ist ein Vollzeitjob, mindestens. Weniger zu arbeiten, hieße, entweder vormittags die Verwaltung schleifen zu lassen oder nachmittags die Lokalpolitik. Komoß sagt, er sei fitter als vorher. Als „heitere Gelassenheit“ beschreibt er seine neue Arbeitseinstellung, die ihm gut tue. Also mal morgens nach der Sonne schauen. Oder tagsüber dran denken, dass auch Probleme mit zunehmender Entfernung kleiner erscheinen: Was heute als Drama daherkommt, ist in vier Wochen halb so wild.

Heitere Gelassenheit statt Empörung

Zweimal im Jahr muss Komoß künftig zum MRT. Im schlimmsten Fall müsse er in 20 Jahren wieder unters Messer, sagt er. Also kann er sich auf die Arbeit konzentrieren: Die Erschließung des Cleantech-Businessparks als Berlins größtes Industriegebiet, dem das Unvermögen der BER-Bauer die in Tegel geplante Konkurrenz vom Hals hält. Und die von Tempelhof nach Marzahn verlegte Internationale Gartenschau 2017 trägt 40 Millionen Euro in den Bezirk. In Zeiten, in denen vieles bis an den Rand des Zusammenbruchs gespart wird, reden sie hier im Rathaus über eine Schwebebahn. Nicht, dass die unbedingt gebraucht würde.

Aber schon der Gedanke, einmal über den Tellerrand zu schweben, mit Blick aufs immergrüne Wuhletal und die Gärten der Welt, hat seinen Reiz. Unkontrolliertes Abheben verhindern die zwölf Millionen Euro Schulden des Bezirks. Es waren mal 35 Millionen. Sie taten furchtbar weh – obwohl sie nur den wöchentlichen Zinsen für die Landesschulden entsprechen. Empörend? Ach was: heitere Gelassenheit.

Wenn Stefan Komoß aus dem Weihnachtsurlaub bei seinen Eltern in Baden zurückkommt, wird er im Anflug auf Tegel über seine Großstadt am Rande der Hauptstadt schweben und sich auf das freuen, was auf ihn zukommt. Und darüber, dass es kommt.

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