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Mauerbau: Das große Graben nach Ost-Berlin

Vergessen könne man so etwas nie, sagen sie. Wenn oben ein Bus vorbeifährt – und einem unten die Erde ins Gesicht bröckelt. Sie sind zwei von 15, die 1964 einen Tunnel gruben, nach Ost-Berlin – und so 57 Menschen zur Flucht verhalfen.

Die nasse Kälte, die bleibt unvergessen. Mit dem Rücken auf der feuchten Erde, die Schaufel fest gepackt und mit dem Fuß in das feuchte Erdreich stoßen. Nur so kann man der Wand Brocken um Brocken entreißen, weil der Gang nicht hoch genug ist, um im Hocken zu arbeiten. Dicht über dem Kopf die bloße Lehmerde, von der immer wieder Erdbrocken rieseln, in die Haare, ins Gesicht. Nicht nachlassen, immer wieder die Schaufel ansetzen, mit ganzer Kraft die stählerne Klinge in die lehmige Schicht stemmen, bis so viel Erdreich heraus gebrochen ist, um wieder einen Eimer zu füllen und nach hinten zu reichen. Einen Tunnel von Westen aus unter der Mauer buddeln und nach 150 Metern, weit hinter den Grenzanlagen wieder auftauchen – kein Plan war so verwegen wie dieser.

Und immer die Angst. Vor plötzlicher Entdeckung. Oder vor Einsturz des nicht abgestützten Tunnels. Diese bangen Momente, wenn das Erdreich vibriert, weil hoch oben wieder ein schwerer Doppeldeckerbus der Berliner Verkehrsbetriebe über das Kopfsteinpflaster der westlichen Seite der Bernauer Straße rumpelt. „Das vergisst man nie“, sagt Klaus-Michael von Keussler, und er lächelt ein wenig schief dabei, als habe er sich zu entschuldigen. Vielleicht liegt es daran, dass der kleingewachsene und ziemlich kahlköpfige Mann den jungen Menschen kaum noch erklären kann, wie er sich auf eine so wahnwitzige Idee überhaupt einlassen konnte. Vor allem nicht hier oben in der Sonne, neben dem aus Strahlträgern stilisierten Grenzturm, um den eine Gruppe von Jugendlichen herumspringt, für die Todesstreifen, Stacheldraht und Schießbefehl unvorstellbar fern sind.

„Wir haben Glück gehabt, dass alles gepasst hat“, sagt der Anwalt Peter Schulenburg, Jahrgang 1939 wie von Keussler, aber mit vollem weißem Haar. Der grüne Rasen zu ihren Füßen irritiert; der wirkt, als wolle er etwas schöner machen, was doch Teil eines mörderischen Grenzregimes war. Der Rasen deckt zu, was das Leben von Keussler und Peter Schulenburg begleitet hat. Ihre Aktion hat sie auch mit der Frage nach Schuld beladen, fast 40 Jahre lang. „War dieses glückhafte Gelingen noch zu rechtfertigen angesichts des tragischen Todes des Grenzsoldaten?“, das hat beide bewegt.

Damals nicht, aber jetzt kennt er klaustrophobische Gefühle, sagt von Keussler. Als er kürzlich in die enge Röhre eines Kernspintomographen geschoben wurde, da war das Tunnelgefühl wieder da. Der Tunnel, mit 60 Zentimeter Höhe – so hoch wie zwei DIN-A4-Blätter – gerade ausreichend, um darin kriechen zu können, zehn Meter tief unter der Erde, feucht und notdürftig beleuchtet durch 40 Watt Glühbirnen, das Ausstiegsloch mehr als 100 Meter entfernt. „Ja, wir waren unbekümmert, improvisierten spontan und gingen Risiken ein“, sagt von Keussler, wie sein Freund damals 23 Jahre alt, und fügt hinzu: „Die damalige Stimmung ist mit heutiger Vernunftbetrachtung nicht zu vergleichen.“ Wenn sie alle Risiken abgewogen hätten, wäre nichts passiert.

Aber genau das wollten sie eben nicht, dass nichts passiert. Einige wollen Familienangehörige oder Freunde in die Freiheit holen, einige waren zuvor selbst geflohen, als die Mauer noch durchlässiger und der Todesstreifen noch nicht perfektioniert war. Andere wie der spätere Anwalt Peter Schulenburg, der keine DDR-Verwandtschaft hatte, taten mit, weil sie was „gegen die Mauer“ machen wollten, so einfach sei es damals gewesen. Am Ende wurden daraus eineinhalb Jahre Buddelei für die beiden Studenten – und für Schulenburg folgte eine einjährige Haft im DDR-Gefängnis, weil er danach als Kurier aufflog.

Im Hinterhof der sanierten Strelitzer Straße 55 im früheren Ost-Berlin stehen Mülltonnen akkurat neben Hecken, wo einst der Schuppen stand, in dem der Tunnel endete. Der „Tunnel 57“, so genannt, weil er 57 Menschen im Oktober 1964 in die Freiheit brachte; die erfolgreichste unterirdische Fluchtaktion. Und der Kohlenplatz, der Ort ihrer größten Enttäuschung ist überbaut worden von einem Neubau. Nur wer es weiß, sieht im Pflaster der Rheinsberger Straße, mitten auf der Fahrbahn, die mit Asphalt zugeschmierten Löcher, wo bis 1989 der erste Grenzzaun stand, direkt gegenüber von Nummer 55. Mehrfach haben sie dort an der Haustür gestanden, wenige Meter entfernt von den Vopos, die im direkten Grenzgebiet auf jeden achteten, der hier nicht wohnte. „Da flatterten mir immer die Hosen“, erzählt von Keussler. Bloß nicht entdeckt werden. Aber ohne die Besuche in Ost-Berlin ging es nicht. Immer wieder machten sie Kurierfahrten, spähten das Gelände aus, knüpften Kontakte zu fluchtwilligen Ost-Berlinern oder suchten nach Anzeichen, dass die Grenzer ihnen auf die Spur gekommen waren.

In der Bernauer Straße 97, direkt an der Mauer, hatte eine Bäckerei ihren Betrieb eingestellt, weil die Kundschaft aus Ost-Berlin fehlte. Der ideale Ort für einen Tunnelbau, mit großen Flächen, um das Erdreich unauffällig zu lagern. Erst geht es in dem als Fotoatelier angemieteten Keller zehn Meter senkrecht hinunter, dann eine leicht ansteigende Röhre, in der die rund 15 Fluchthelfer sich kriechend bewegen. Immer nur eine Person kann den Tunnel vorantreiben, alle zwei, drei Stunden wird gewechselt, alte Reifenteile schützen die zerschundenen Knie. Mühsam wird der Sand aus dem schlammig-nassen Schacht nach oben gehievt. Erst als die unbedarften Studenten immer kurzatmiger werden und Kerzen oder Streichhölzer häufig ausgehen, sorgen sie für Frischluftzufuhr durch eine selbstgebastelte Rohrleitung.

Nur wenn der Lärm des Tages es zulässt, wird mit einem Presslufthammer der zähe Mergelboden aufgestemmt, sonst wird aus Angst vor den DDR-Horchtrupps gegraben. Die Hoffnung, mit einer mühevoll gebauten Erdfräse schneller voranzukommen, zerbricht mit den Meißeln der rotierenden Welle. Bis zu 15 Studenten sind es, die sich im Tunnel abwechseln. „Das war schon spannender, als Scheine für das Jurastudium zu machen“, sagt Schulenburg, der zusammen mit von Keussler die Erlebnisse aufgeschrieben hat im Buch „Die Fluchthelfer“.

Muss man selbstvergessen sein, oder grenzenlos unrealistisch und überheblich, um solch ein Projekt in Angriff zu nehmen? Viele Fluchtpläne waren nach dem Mauerbau gescheitert. Einige aus der Gruppe hatten schon bei anderen Projekten mitgemacht; von Keussler etwa half mit, einen Flüchtling nachts mit einer Seilwinde hoch über der Mauer in den Westen zu holen, als auf der anderen Seite noch Häuser direkt an der Grenze standen. Doch die DDR fing an, das Hinterland zu planieren, alles abzureißen, was die Sicht verdeckte und das freie Schussfeld. Schulenburg und von Keussler hatten auch Erfahrungen mit gescheiterten Tunnelprojekten: Einmal wurden sie zu Baubeginn von Anwohnern enttarnt, ein andermal brach die Tunneldecke ein und brachte einen Kameraden in Lebensgefahr.

Fast unvorstellbar ist, dass die Gruppe aus angehenden Juristen, Medizinern oder Physikern nicht aufflog, die sich dort unter der Leitung des fast gleichaltrigen Schauspielstudenten Wolfgang Fuchs unter den Grenzanlagen hindurch grub. Schließlich gab es neben Kontaktleuten wie dem Beamten der Polizeiwache auch ungeplante Mitwisser. Etwa den Stromableser, der in die Kellerräume platzte oder Hausbewohner, die sich angesichts der vielen verschmutzt aus der Bäckerei auftauchenden Männern leicht zusammenreimen konnten, was in dem angeblichen Foto-Studio geschah. „Wir hatten Glück, dass kein falscher Fuffziger dabei war“, sagt von Keussler, der bis zur Pensionierung unter anderem als Jurist für die Vereinten Nationen arbeitete.

Die Enttäuschung kam nach 176 Tagen Buddelei. Der Tunnel müsse am Haus in der Strelitzer Straße angekommen sein, hatten sie aufgrund grober Peilungen ausgerechnet – ein GPS-System wie heute ist damals nicht einmal vorstellbar. Endlich wagen es Keussler und Schulenburg, nach oben zu graben, durchstoßen vorsichtig die Oberfläche – und sind grenzenlos entsetzt, weil sie an völlig anderer Stelle herausgekommen sind: mitten auf einem Kohlenlagerplatz hinter dem anvisierten Haus. Gerade einmal drei jungen Frauen gelingt die Flucht, dann wird der Tunnel vom Kohlenhändler entdeckt und von den Vopos gesprengt.

Wie reagiert man auf eine solche Niederlage, nach dieser Plackerei, immer neben dem Studium? Den irrsinnigen Plan möglichst schnell vergessen? Der immer noch agil wirkende von Keussler zieht die Schultern hoch. Klar, niedergeschlagen waren sie, sagt Schulenburg. Aber aufgeben, dass sei keine Frage gewesen, erzählen sie im hellen Sonnenlicht an der Bernauer Straße, wo der einst undurchdringliche Todeswall nun nachgebildet ist aus filigran wirkenden Stahlstreben. Ganz licht wirkt die Konstruktion, und das Roggenfeld an der Versöhnungskapelle, wo einst Todesstreifen war, wiegt sich fast idyllisch im Wind.

Das Haus Bernauer Straße 97 mit der Bäckerei wich in den 80er Jahren einem schlichten Neubau. Muffig-feuchte Luft steigt im Hinterhof aus einem vergitterten Abwasserschacht. Nur drei Meter geht es in die Tiefe; es lässt aber auf beklemmende Weise ahnen, was es heißt, sich mehr als zehn Meter in die Tiefe zu graben und abzuseilen, Tag für Tag, Woche um Woche, immer in Lebensgefahr.

Statt aufzugeben, fangen sie noch einmal an; an der selben Stelle, nur ein wenig versetzt – weil so etwas die Grenzer garantiert nicht erwarten würden. Wieder wird monatelang gegraben. Und diesmal kommen sie an einer geeigneten Stelle heraus, zwar nicht wie geplant im Keller, doch in einem Toilettenschuppen auf dem Hinterhof der Strelitzer Straße 55. Sofort werden Kuriere nach Ost-Berlin geschickt, die Fluchtwilligen alarmiert, und in den beiden folgenden Nächten einzeln oder in kleinen Gruppen auf den Hinterhof geschleust, immer vorbei an den Grenzern am ersten Sperrzaun.

Einige Flüchtlinge geraten in Panik, als sie begreifen, dass der Weg in die Freiheit durch diese enge Röhre gehen soll. Insgesamt 57 Menschen, darunter auch kleine Kinder, kriechen in diesen Stunden durch den Tunnel. Unbemerkt kann das nicht bleiben. Als in den ersten Stunden des 5. Oktobers 1964 mehrere Stasi-Mitarbeiter auf dem Hinterhof erscheinen, denken die Studenten zunächst, es seien weitere Flüchtlinge – bis sie die Waffen sehen. Auf der Flucht zum Tunneleingang, während Vopos mit Maschinenpistolen auf sie feuern, gibt der Student Reinhard Furrer – später der erste deutsche Astronaut – einen Schuss auf die Verfolger ab. Dabei hatten die Fluchthelfer vereinbart, keine Waffen mitzunehmen. Bei der Schießerei stirbt der Grenzsoldat Egon Schultz. Von der DDR-Propaganda wird er als Opfer skrupelloser Menschenhändler hingestellt und die Strelitzer Straße nach ihm benannt. Erst nach dem Mauerfall stellt sich heraus, dass der Grenzer irrtümlich von eigenen Kameraden tödlich getroffen wurde – was das Ministerium für Staatssicherheit die ganze Zeit wusste.

Fühlten sie sich als Helden, weil der Tunnel große Schlagzeilen im Westen machte? Nein, „aber eine gewisse Genugtuung“ gab es. „Empört“ habe sie aber, als ihnen finanzielle Motive unterstellt wurden, gerade weil es Beispiele „dubios-anrüchiger Fluchthilfe“ gab. „Wir nehmen kein Geld“, sei klar gewesen. Dass sie den Tunnel mit Spenden finanzierten, verschweigt das langjährige FDP-Mitglied von Keussler nicht, der später Brandts Ostpolitik unterstützte. Am Ende ließen die Folgen dieser Politik, und nicht spektakulären Fluchtaktionen die Mauer fallen.

Vom Tunnel zeugen an der Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße nun einige stählerne Markierungen auf dem Rasen. Die Gruppe von Jugendlichen, die an den beiden alten Männern vorbeilaufen, reden beim vorbeigehen davon, wie „echt krank das hier mal war“. Jetzt ist es ziemlich grün. Den Schriftzug, „Tunnel 57“, auf einem der Markierungen kann man leicht übersehen.

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