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© dpa

Mauerfall: Durchgehend geöffnet

Während die Mauer im Winter ’89 jeden Tag durchlässiger wurde, stand sie am Pariser Platz felsenfest. Erst zwei Tage vor Weihnachten fiel auch hier die Grenze – von ganz Berlin sehnlichst erwartet.

Wochenlang, eigentlich seit dem 9. November 1989, hatte Berlin auf diesen Moment gewartet. Zur inzwischen so offenen Stadt fehlte nur noch eine große Kleinigkeit – die Erfüllung des Wunsches (oder der Forderung) von Ronald Reagan an Mister Gorbatschow: Open this Gate! Nichts war und ist in Berlin symbolträchtiger als das Brandenburger Tor. Und so stehen seit Wochen die Übertragungswagen weltweit operierender Fernsehanstalten mit ihren aufgeklappten Parabolantennen auf der Westseite zwischen Mauer und Tiergarten. Es ist wie ein Heerlager. Nur: Wann beginnt endlich der Kampf um die schnellsten und besten Bilder? Wann wird es auch möglich, was 28 Jahre unmöglich war – durch die Säulen zu gehen, einfach so?

Die DDR-Führung ist sich der hohen Erwartung und der weitreichenden Folgen der Maueröffnung an diesem historischen Ort wohl bewusst. Deutschland, einig Vaterland steht plötzlich auf der Tagesordnung. Bundeskanzler Helmut Kohl und DDR-Ministerpräsident Hans Modrow haben bei ihrem Treffen in Dresden vereinbart, das Tor noch vor Weihnachten zu öffnen. Für den 21. Dezember, abends, werden die Journalisten auf die Brache am Pariser Platz gebeten. Es ist nasskalt. Nun soll es passieren. Scheinwerfer der Nationalen Volksarmee beleuchten die Szene, ein Kran ist aufgefahren, Oberstleutnant Norbert Klesse von den Grenztruppen sagt, gegen 22.30 wird das erste „Sperrelement“, also ein Mauerteil, hochgezogen. Zunächst sollen zwei Durchgänge entstehen, einer rechts vom heutigen „Raum der Stille“ für die „Ausreise“ Richtung Reichstag, ein anderer links für die Einreise in die (noch immer) Hauptstadt der DDR. Aber der betonierte „antifaschistische Schutzwall“ sträubt sich dagegen, von jenen durchlöchert und abgebaut zu werden, die ihn 28 Jahre lang bewacht hatten. Den Presslufthämmern brechen die Meißel weg, Steinbohrer müssen her, um Mitternacht versucht ein Schwenkkran, das widerspenstige Element zu bewegen, umsonst. Erst als ein Schaufelbagger vorfährt, kapituliert das Mauerstück. Es ist kurz nach halb eins, als die erste Platte am Haken des Krans schwebt. Stürmischer Beifall. Hallo und Hurra. „Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ’ne kleine Wanze!“ singen die Leute „drüben“ und klatschen sich mit den „Kreuzberger Nächten“ warm. Auf der Straße des 17. Juni ist Tormauerfallparty. Dann reichen sich Ost und West durch die Lücke die Hände. Vollbracht! Der Rest ist Routine, die Feiern für alle können beginnen.

Am Freitag, dem 22. Dezember, gießt es in Strömen. Tausende Berliner möchten den historischen Moment erleben. Gegen 15 Uhr begrüßen sich Ministerpräsident Hans Modrow und Bundeskanzler Helmut Kohl an der Nordseite des Tores, ungeduldig fordern die Leute: Aufmachen! Aufmachen! „Der deutsch-deutsche Wahnsinn hat seinen Höhepunkt erreicht“, schreibt die „Taz“. Das Volksfest erinnert an die Stunden nach dem Mauerfall, „Werte Berliner und ihre Gäste!“, ruft ein Volkspolizei-Einsatzleiter ins Mikrofon, und der Tagesspiegel registriert mittenmang: „Unter einem Balkonvorsprung in der Otto-Grotewohl-Straße hatte sich eine Blaskapelle aufgestellt, die unverdrossen Märsche gemäßigter Art schmetterte. Nationalistische Kundgebungen blieben dagegen völlig aus. Gefragt waren eher melancholische Darbietungen wie das Konzert einer Frau, die zum Akkordeon Berlinisches von Walter Kollo darbot: „Biste am Pariser Platz, schwuppdich, haste schon ’nen Schatz.“

Nicht halb so lustig sind dann die staatstragenden Reden. Helmut Kohl spricht von einer bewegenden, ja, einer der glücklichsten Stunden seines Lebens: „Ich spüre als Deutscher, dass ich hier in Berlin mitten in Deutschland bin und dass wir hier zuhause sind und alles tun, um die Gemeinsamkeit der Deutschen zu pflegen.“ Hans Modrow gibt zu bedenken, „dass die Geschichte darüber urteilen wird, ob diese Mauer die Ultima Ratio war. Sie sollte den Menschen nützen und hat Menschen sehr wehgetan.“ „Hier gehen Welten aufeinander zu, Peripherien werden zur Mitte“, ahnt Ost-Berlins Oberbürgermeister Erhard Krack, und sein West-Kollege Walter Momper dankt den DDR-Pionieren, die „heute Nacht bis zum Umfallen gearbeitet haben“, damit der neue Übergang termingerecht fertig wird. Jetzt freue dich, Berlin!

Derweil wird das Geschiebe und Gedränge noch heftiger. Sektkorken knallen unter dem Tor. Kohl und Modrow lassen weiße Tauben in den Himmel fliegen: Nun jauchzet, frohlocket!

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