zum Hauptinhalt

Berlin: Medikamente: Abgesetzt

Mit einem ironischen Lächeln studiert Karl Jost (Name von der Redaktion geändert) den Beipackzettel. Als der Internist seinem herzkranken Patienten vor zwei Jahren den Cholesterinsenker Lipobay verschrieb, machte dem 81-Jährigen die lange Liste der möglichen Nebenwirkungen keine Angst.

Mit einem ironischen Lächeln studiert Karl Jost (Name von der Redaktion geändert) den Beipackzettel. Als der Internist seinem herzkranken Patienten vor zwei Jahren den Cholesterinsenker Lipobay verschrieb, machte dem 81-Jährigen die lange Liste der möglichen Nebenwirkungen keine Angst. Bei dem Medikament, das er für Lipobay absetzte, hatte es sich nicht harmloser gelesen: "Sie haben ja keinen Beipackzettel, in dem so etwas nicht drinsteht."

Karl Jost muss es wissen. Er nimmt seit etlichen Jahren viele Medikamente. "Es ist die Standardmedikation bei schwerer Herzinsuffizienz", erklärt Jost fachmännisch. Denn er war einmal Pharmareferent, über dreißig Jahre lang, bei einer Hamburger und einer Berliner Firma. Aus den Nachrichten erfuhr Jost vor einer Woche, dass Lipobay vom Markt genommen werde. Am selben Abend setzte er den Cholesterinsenker eigenmächtig ab. Den Internisten, Hans-Jürgen Schulze, rief er erst am nächsten Morgen an. In der Praxis am Kaiserdamm war der Arzt schon vorbereitet. Auch aus den Nachrichten und nicht vom Hersteller Bayer.

Vor zwei Jahren hatte der Internist eine gute Nachricht für den alten Pharmareferenten. Er sagte zu Jost: "Bayer hat das neu herausgebracht, wollen wir mal probieren." Nicht aus Spaß an Neuerungen, wie Schulze betont, sondern weil Jost auf das alte Medikament nicht angesprochen hatte. Der Patient freute sich über die Verschreibung, rechnete es dem guten Verhältnis zu seinem Arzt an, dass er ein mit 184 Mark pro Drei-Monats-Packung teures Medikament umgehend verschrieben bekam.

Tatsächlich verordnete Schulze besonnen - die niedrigste Dosierung von 0,1 Milligramm am Tag und nicht die von vielen anderen Ärzten verordnete Maximaldosis von 0,4 Milligramm. Der Erfolg der neuen Medikation kam fast umgehend. Bei einer Blutuntersuchung nach drei Monaten hatte sich der Cholesterinwert normalisiert. Das bedeutete eine gute Prognose für den Mann mit den vier Bypässen. Erhöht waren allerdings die Leberwerte. Weder für den Internisten noch für Karl Jost ein Grund, Lipobay abzusetzen. "Keine Wirkung ohne Nebenwirkung", wiederholt Jost einen Leitsatz aus seiner aktiven Zeit.

Die alarmierenden Nachrichten über die möglicherweise sehr viel gravierenderen Nebenwirkungen von Lipobay regen Jost allerdings auf. "Als Pharmareferent", sagt er, "weiß ich, dass Firmen nach der langen und teuren Entwicklungszeit vom Erfolg eines Medikaments abhängig sind." Deshalb habe Bayer Lipobay eben nicht nach ersten Warnungen unabhängiger Institute zurückgezogen. "Aber als Patient finde ich es schweinemäßig." Frau Jost zuckt zusammen. So drückt man sich normalerweise nicht im Hause Jost aus.

Eigentlich hatte sich ihr Mann schon ganz still mit Dr. Schulze darauf geeinigt, das Medikament ersatzlos zu streichen und nach einem Monat im Bluttest zu sehen, wie sich der Cholesterinwert entwickelt. Seinem Arzt macht Jost keinen Vorwurf. Hans-Jürgen Schulze will in Zukunft "noch kritischer" mit Fettstoff senkenden Medikamenten umgehen. Das gelte auch für die Alternativpräparate.

Annemarie Jost misstraut der vielen Medizin generell. Sie macht dem Pharmagläubigen an ihrer Seite einen radikalen Vorschlag: "Was wäre, wenn du alles absetzt?" Wieder huscht ein ironisches Lächeln über das Gesicht des Karl Jost: "Dann wäre ich tot."

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false