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Rund 10 000 Wohnungslose leben in Berlin.

© dpa

Medizinische Hilfe für Obdachlose in Berlin: Im Notfall auch ohne Papiere

In einem Gesundheitszentrum in Mitte werden Obdachlose versorgt – notfalls auch ohne Papiere. Augenärztin Hella Hickel hat hier viel zu tun. Denn vielen Menschen von der Straße vergeht das Sehen.

Bei der zweiten Reihe fangen die Probleme an. Dirk Güllmar starrt auf die Zahlen, die an die Wand projiziert werden und die von Reihe zu Reihe kleiner werden. 0, 3, 7...? „Jetzt sehe ich alles etwas verschwommen“, sagt der junge Mann mit der schwarzen Kapuzenjacke. „Haben sie als Kind eine Brille getragen?“, fragt Augenärztin Hella Hickel. Der 26-Jährige nickt. „Und geschielt?“ Wieder ein Nicken. „Ein bisschen, manchmal auch gezwinkert.“

Ruhig geht Hickel nun Frage für Frage durch, legt eine Patientenkartei an. Erkundigt sich nebenbei nach weiteren gesundheitlichen Problemen, nach dem sozialen Umfeld. Es klingt fast wie ein Gespräch unter Vertrauten. An die Stelle, wo üblicherweise die Anschrift des Patienten eingetragen wird, notiert die Augenärztin ein Kürzel: OFW – ohne festen Wohnsitz.

Dirk Güllmar ist einer von geschätzten 10 000 Wohnungslosen in Berlin. Für sie beginnt jetzt mit dem ersten Schnee die harte Jahreszeit. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Offizielle Patienten eigentlich auch nicht.

Im Gesundheitszentrum in Mitte werden Obdachlose behandelt

Mit einer Probierbrille überprüft Hickel die subjektive Sehschärfe bei ihrem Patienten. Fragt, ob es besser oder schlechter wird, wenn sie unterschiedliche Gläser einsetzt. Einfacher wäre die objektive Brillenbestimmung mit einem Refraktometer. Eigentlich ein Standardinstrument in einer augenärztlichen Praxis – genau wie die Spaltlampe, die hier kaputtgegangen ist. Doch das Behandlungszimmer in der Pflugstraße 12 in Mitte befindet sich in keiner gewöhnlichen Praxis.

Die Wände sind in Mint getüncht, cremefarbene Sichtblenden hängen vor den hohen Altbaufenstern. Es gibt eine kunstlederne Sitzecke, gespendet vom Hotel Marriott. Die Medikamente im Apothekenzimmer gegenüber sind Gaben umliegender Krankenhäuser und Arztpraxen. Das Gesundheitszentrum der „Jenny De La Torre Stiftung“ finanziert sich aus Spenden. Hier werden die Ärmsten der Armen behandelt, notfalls ohne Papiere.

Kurzsichtig: Gerade ältere Obdachlose leiden an Sehschwächen. In die Praxis der eigentlich pensionierten Augenärztin Hella Hickel kommen sie aber meist zu spät.
Kurzsichtig: Gerade ältere Obdachlose leiden an Sehschwächen. In die Praxis der eigentlich pensionierten Augenärztin Hella Hickel kommen sie aber meist zu spät.

© Georg Moritz

„Menschen aus allen sozialen Schichten kommen zu uns“, sagt die Ärztin

Auch Dirk Güllmar hat keine Krankenversicherung. Vor einigen Monaten verlor der ausgebildete Garten- und Landschaftsbauer seine Einraumwohnung, nachdem das Sozialamt die Miete strich, weil er wegen wiederholten Schwarzfahrens mit der S-Bahn ins Gefängnis musste. Güllmar, der seit zwei Jahren arbeitslos ist, weil seine Firma schließen musste, verlor nicht nur die Wohnung: ohne Meldung keine Krankenversicherung. Und damit keine Behandlung beim Arzt.

„Menschen aus allen sozialen Schichten kommen zu uns“, sagt Hickel. „Viele von ihnen sind traumatisiert oder orientierungslos. Sie leben in einer vollkommen anderen Welt.“ Die Medizinerin ist 73 Jahre alt und eigentlich längst im Ruhestand. Einmal pro Woche kommt sie in die Stiftung. Jeden Dienstag, von 10 bis 13 Uhr, untersucht sie hier Menschen mit Augenproblemen. Die Ärztin arbeitet ohne Honorar, genau wie die anderen 20 Ehrenamtlichen, die ihrem Dienst neben acht Festangestellten im Gesundheitszentrum nachgehen. „Es wäre schade, wenn meine ganze Lebens- und Berufserfahrung einfach so verpuffen würde“, sagt sie.

Bis zum Ruhestand vor sechs Jahren hatte Hickel ihre eigene Praxis unweit der Volksbühne. Dort kam Jenny De la Torre als Patientin zu ihr in die Praxis. Während der Augenuntersuchung erzählte die wohl bekannteste Obdachlosenärztin Deutschlands von ihrem Gesundheitszentrum, in dem Bedürftige auch ohne Versicherung betreut werden. Medizinisch, psychologisch, sozialtherapeutisch und bei Bedarf juristisch. Neben einer eigenen Kleiderkammer, Waschräumen und einer Suppenküche gibt es eine Suchtberatung und sogar einen hausinternen Friseur. „Der ganzheitliche Ansatz hat mich überzeugt“, sagt Hickel. „Und mein Blick für soziale Belange hat sich geschärft.“

Bei vielen Obdachlosen nimmt die Sehkraft ab

Der durchschnittliche Obdachlose ist laut Statistiken um die 45 Jahre alt und männlich. Die meisten merken ab 40, dass ihre Sehkraft langsam abnimmt und sich eine Altersweitsichtigkeit einstellt. „Vielen kann ich mit einer einfachen Sehhilfe helfen“, sagt die Ärztin und zieht eine Schublade auf, in der Dutzende gespendete Brillengestelle liegen. Hornbrillen, randlose, farbige Gestelle, mit oder ohne Verzierung. Jede einzelne ist ausgemessen und mit einem Schildchen beklebt, auf dem die Sehstärke notiert ist. Sonnenbrillen für lichtempfindliche Augen gibt es auch. „Nur weil man auf der Straße lebt, muss man ja nicht auf guten Geschmack verzichten“, sagt Hickel.

Dass viele Patienten erst zur Augenuntersuchung kommen, wenn es beinahe zu spät ist, vermag Hickel nicht zu beeinflussen. Viele Sehdefekte im Anfangsstadium weiten sich zu unheilbaren Schäden aus. Am Ende steht für etliche Wohnungslose die Blindheit. Die Dunkelheit.

Keine Schwierigkeiten mehr, Bewerbungen zu schreiben

Schon eine eingeschränkte Sicht führt oftmals zur Orientierungslosigkeit und wird zur Gefahr im Straßenverkehr. „Hey, Du Penner!“, musste sich einer von Hinkels Patienten kürzlich anhören, weil er einen Radfahrer nicht gesehen hatte. Ausgelöst durch ein fortgeschrittenes Glaukom, den sogenannten grünen Star, das bei Nichtbehandlung zur Zerstörung des Sehnervs führt. Der Patient, ein gebildeter und höflicher Mann um die 60, der infolge mehrerer Schicksalsschläge auf der Straße lebt, kann seitlich überhaupt nichts mehr wahrnehmen. Hickel hat ihm dringend zu einer Operation geraten. Doch wer übernimmt die Kosten, wenn man nicht einmal krankenversichert ist? „Besonders Älteren machen Augenkrankheiten zunehmend zu schaffen“, erzählt Hickel. „Theoretisch hat jeder Mensch Anspruch auf eine Krankenversicherung, doch vielen fehlt die Kraft, die nötigen Anträge zu stellen.“

Dass es theoretisch genügend Hilfe für Obdachlose gibt, weiß auch Gesundheitszentrumsgründerin De la Torre. Ein Stockwerk tiefer kniet die peruanischstämmige Ärztin mit zurückgebundenem schwarzen Haar vor einem Patienten und schneidet ihm die Hosenbeine auf. Über die vergangenen Monate ist der Stoff mit der Haut des Patienten verwachsen. Was darunter zum Vorschein kommt, hat mit der Vorstellung der menschlichen Schutzhülle nicht mehr viel gemein. Verwester Geruch erfüllt den Raum.

De la Torre bleibt sachlich, verordnet dem Patienten ein Fußbad und eine Dusche. Nachdem die Wunden behandelt und verbunden sind, geht es in die hausinterne Kleiderkammer, wo frische Kleidung für den Mann herausgesucht wird. Etwa 500 Neuzugänge verzeichnet das Gesundheitszentrum in der Pflugstraße pro Jahr.

Ein Stockwerk höher ist die Augenuntersuchung beendet. Dirk Güllmar ist nun Besitzer einer randlosen Lesebrille. Er wirkt etwas ermutigt. Seiner Augenärztin erzählt er zum Abschied, dass er als nächstes mit Hilfe einer Sozialarbeiterin eine feste Bleibe suchen wird. Und dann einen festen Job. Mit der neuen Brille dürfte er keine Schwierigkeiten mehr haben, Bewerbungen zu schreiben.

Alicia Rust

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