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Berlin: Mehr Gelassenheit, bitte - Deutschland hält Neonazi-Demos aus, aber auch etwas weniger Demonstrationsfreiheit (Kommentar)

Berlin, Pariser Platz, 30. Januar 1933.

Berlin, Pariser Platz, 30. Januar 1933. Hitler ist an der Macht. Zehntausende seiner Anhänger von den "nationalen Verbänden" SA, SS und Stahlhelm ziehen mit Fackeln triumphierend durch das Brandenburger Tor. Die Nazis hatten extra für diesen Marsch die Aufhebung der Bannmeile im Regierungsviertel erwirkt. Gleich rechts vom Tor, in Haus Nummer 7, steht in seiner Wohnung im vierten Stock der Maler Max Liebermann am Fenster. Was er in dieser Stunde denkt, hat er kurz darauf im Cafe¿ Kranzler Unter den Linden gesagt: Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.

Berlin, Pariser Platz, am Vorabend des 30. Januar 2000. Das Oberverwaltungsgericht hebt das am Tag zuvor von der Polizei erlassene Verbot einer Demonstration gegen den Bau des Holocaust-Mahnmals wieder auf. Hunderte Neonazis ziehen mit knatternden schwarz-weiß-roten Fahnen stiefelknallend und mit der Parole "Ruhm und Ehre der Waffen-SS" auf den Lippen durch das Brandenburger Tor. Der Regierungssprecher erklärt, der Marsch sei pervers und beschämend. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde sieht neue Zeiten anbrechen.

Muss es sich dieses Land gefallen lassen, dass die Epigonen der Massenmörder die Massenmörder hochleben lassen?

Die Antwort darauf ist nicht so einfach, wie die ersten erregten Kommentare es nahelegen. Die eine mögliche Antwort lautet: Ja, das Land muss sich das gefallen lassen, jedenfalls unter den gegebenen Umständen; aber es müsste es sich nicht gefallen lassen, wenn es die Umstände ändern würde. Die Rechtsextremisten wissen - wie alle anderen auch, die für was auch immer demonstrieren wollen - das Recht auf ihrer Seite. Sie allein entscheiden, wann, wo und wofür oder wogegen protestiert wird. Demonstrationen müssen nicht beantragt werden, nur angemeldet, und sie bedürfen auch keiner Genehmigung. Allenfalls können sie, in wenigen, genau bestimmten Ausnahmefällen, mit Auflagen versehen oder verboten werden. Oft geschieht dann das, was auch zum Marsch der Rechtsextremisten führte: Polizei und Verwaltung greifen ein - die angerufenen Gerichte kassieren die Entscheidungen wieder.

Das Oberverwaltungsgericht, das den Neonazis den Weg frei machte zum Mahnmalgelände und zum Pariser Platz, besteht, soweit bekannt, nicht aus Nazi-Sympathisanten. Das Gericht hätte auch zu einer anderen Einschätzung und folglich zu einer anderen Entscheidung kommen können. Aber zu welchem Preis? Es wären womöglich nicht die Bilder der durch das Brandenburger Tor ziehenden Neonazis zu sehen gewesen. Aber ein Marschverbot hätte deren Propagandamaschine geölt. Angemeldet hatte die Demonstration ein zwar in der rechten Szene, aber nicht als extremistischer Gewalttäter bekannter Typ. Er führt eine Bürgerinitiative gegen das Mahnmal an - gegen das Bauwerk also, das erklärtermaßen auch der Regierende Bürgermeister dieser Stadt hier nicht haben will. Was ist das für eine Demokratie, die eine solche Demonstration nicht erträgt?

Über mögliche Einschränkungen des Demonstrationsrechts wird nicht erst seit gestern gesprochen. Und es gibt ja durchaus ernstzunehmende Gründe dafür: Abgeordnete zum Beipiel sollten Entscheidungen nicht unter dem Druck der Straße treffen müssen. Eine Stadt hat das berechtigte Interesse, Straßen, die von Hunderttausenden täglich passiert werden müssen, nicht ebenso täglich von einer Handvoll Demonstranten über Stunden blockiert zu sehen. Ein Land hat einen Anspruch darauf, dass seine Symbole nicht geschändet werden - und dass die Freiheit, die es bietet, nicht zur Abschaffung der Freiheit missbraucht wird. Welcher Schaden wäre der Demokratie entstanden, wenn die Rechtsextremisten, statt durch das Brandenburger Tor hindurch marschieren zu dürfen, ums das Tor herum hätten laufen müssen?

Stets folgte den Erwägungen, das Demonstrationsrecht einzuschränken, lauter Protest. Und ganz abwegig sind ja auch diese Befürchtungen und Argumente nicht. Wer garantiert, dass dem ersten Schritt nicht der zweite folgt? Wer, dass nicht irgendwann gar nicht mehr an den Orten Stadt demonstriert werden darf, wo der Protest auch wahrgenommen wird? Was ist eine Demonstration wert, die nicht gesehen und nicht gehört wird? Und opfert man nicht einen wichtigen Schutz von Minderheiten der Willkür der Mächtigen, gegen die sich Demonstrationen oft richten?

Die Demonstrationsfreiheit ist ein wichtiges, schützenswertes Gut. Aber die Bedeutung ihrer absoluten Reinheit wird überhöht. Was nutzt, zum Beispiel, die Demonstrationsfreiheit, wenn es keine Wahlfreiheit gibt? Und doch gibt es eine Vielzahl von Einschränkungen dieses Rechts, die mit den Bedingungen einer Kandidatur beginnen und mit der Fünf-Prozent-Klausel noch lange nicht enden. Die Demokratie ist durch diese Einschränkungen nicht substanziell geschwächt oder gar gefährdet worden. Im Gegenteil: Einen Teil dieser Einschränkungen gibt es gerade, um die Demokratie zu schützen.

Deutschland ist in diesen Tagen wieder einmal mächtig aufgeregt. In Österreich kommt Haider an die Macht, in Berlin marschieren die Neonazis auf. Und jetzt soll auch noch das Demonstrationsrecht ausgehöhlt werden! Aber die Aufregung wird sich wieder legen. Die Bundesrepublik hält demonstrierende Neonazis aus. Die Bundesrepublik hält auch ein paar neue Regeln für die Demonstrationsfreiheit aus.

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