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Mein Berlin: Die Stadt der Gleichgültigkeit

Jeden Tag passieren Dinge in unserer Stadt, die uns nicht berühren, weil wir nicht direkt davon betroffen sind. Es ist diese Gleichgültigkeit, die Berlin irgendwann kaputt machen kann.

Ich war in München. Der Verein „Lichterkette“ hat zwei Kolleginnen und mich eingeladen, aus unserem Buch „Manifest der Vielen“ zu lesen. „Lichterkette“ entstand 1992. Es war jene Zeit in Deutschland, in der zuerst Asylbewerberheime und später Menschen brannten. Vier Münchner Bürger mobilisierten damals 400 000 Menschen und gingen am 6. Dezember 1992 gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus auf die Straße.

Vor zwei Wochen brannte das Anton-Schmaus-Haus der Jugendorganisation Falken in Neukölln. Das ASH ist ein Ort für Kinder und Jugendliche, wo sie Hausaufgabenhilfe bekommen, Computerkurse machen, Gitarre spielen lernen, basteln und kochen. Freizeitangebote, für die die Familien der Kinder kein Geld übrig haben. Bedroht wurde die Einrichtung schon oft, nun ist sie in Rauch aufgegangen. Der Sachschaden ist groß (Spendenkonto unter www.falken-neukoelln.de) – der immaterielle ist nicht wieder gutzumachen. Die Frage, die mir durch den Kopf geht, ist, wann ist der Punkt erreicht, dass sich Menschen wie 1992 aufraffen und sich einbringen? Von Pastor Martin Niemöller stammt der Satz: „Als sie die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, denn ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialisten und Gewerkschafter geholt haben, habe ich geschwiegen, denn ich war ja keins von beiden. Als sie die Juden geholt haben, habe ich geschwiegen, denn ich war ja kein Jude. Als sie mich geholt haben, hat es niemanden mehr gegeben, der protestieren konnte.“

Jeden Tag passieren Dinge in unserer Stadt, die uns nicht berühren, weil wir nicht direkt davon betroffen sind. Ich merke nicht, dass die Bezirksbibliothek kein Geld für neue Bücher bekommt, weil ich meine Bücher in der Buchhandlung kaufe. Das kleine Theater, das schließen muss, interessiert mich nicht, weil ich in das Deutsche Theater gehe. Die freien Träger der Jugendhilfe, deren Verträge gekündigt werden, tangieren mich nicht, weil ich sie nicht in Anspruch nehmen muss. Das Haus der Falken wird angezündet, es betrifft mich nicht, weil meine Tochter in den Ballettunterricht geht. Wann macht es klick im Kopf? Wann realisiert man, dass das Schicksal meines Nachbarn, die Jugendhilfe, die Räume, in denen man Sozialverhalten erlernt, der freie Zugang zu Kultur und Bildung, Schutzeinrichtungen einer sozialen Stadt sind, für die wir alle die Verantwortung tragen?

Oft denke ich an den Bezirksbürgermeister mit der Goldrandbrille, der so brillant die Missstände seines Bezirks bundesweit vermarktet, dass man ihn einfach ins Herz schließen muss. Gut, eine kleine Lücke klafft schon zwischen seinen drastisch bebilderten Schilderungen einerseits und der tatsächlich erlebten tatkräftigen Abhilfe andererseits. Nun weist er zu Recht darauf hin, dass die Soziallasten seinen Etat auffressen. Es fehlen die Mittel, um genau jene Zustände für die nachwachsende Generation abzuwenden. Uns, die das nicht betrifft, sehen es vielleicht mit Wohlwollen, wenn man den wuchernden Sozialausgaben mit der Heckenschere zu Leibe rückt. Allerdings übersehen wir womöglich, dass wir selbst am langen Ende des Astes sitzen, der gerade abgesägt wird. Aber wenn die Probleme von heute schon erdrückend sind, warum verhindere ich dann nicht die von morgen und zwar heute, womit ich mir die Ausgaben für morgen sparen kann?

Berlin war durch nichts kaputt zu kriegen. Weder der Faschismus noch Bombennächte oder die Mauer haben das vermocht. Berlin kann nur eine einzige Sache zerstören: unsere Gleichgültigkeit. Oder wie mein Vater sagen würde: „Anlayana sivrisinek saz, anlamayana davul zurna az“ – dem Verständigen ist das Summen der Mücke ein Trommelgewitter, dem Begriffsstutzigen nicht einmal ein Orchester ausreichend.

Die Autorin lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin. Ihre Kolumne erscheint jeden Montag.

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