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Vor 50 Jahren kamen die ersten türkischen Gastarbeiter nach Deutschland.

© dpa

Mein Berlin: Einsamer Geburtstag

Vor 50 Jahren wurde ein Papier unterzeichnet, das die Anwerbung von türkischen Gastarbeitern nach Deutschland regelte. Unsere Kolumnistin Hatice Akyün befürchtet, dass das Jubiläum eine steife Angelegenheit wird, weil niemand das Geburtstagskind kennt.

Ich bin zu einem 50. Geburtstag eingeladen. Es ist die Feier eines Freundes aus früheren Zeiten. Allerdings feiert er nicht selbst, sondern wird gefeiert. Ich glaube, sie machen den Aufwand nur, weil er die letzten Jahrzehnte das weggemacht hat, wofür sie sich selbst zu schade waren. Obwohl er nie dazugehörte, ist er trotzdem geblieben. Wissen Sie, ich komme aus dem Ruhrgebiet, und im Bergbau ging es hier irgendwann nicht mehr ohne die Hilfe des Freundes. Was als Zweckverhältnis begann, ist zur soliden Partnerschaft gereift. Trotzdem befürchte ich, dass die Feier des Freundes eine steife Angelegenheit wird. Keiner, der die Party schmeißt, kennt den Jubilar und weiß, wie er sich fühlt.

So genau kann ich noch nicht sagen, was ich an seinem Geburtstag tun werde. Für mich ist es ein normaler Tag, ein Sonntag, an dem vor 50 Jahren ein Papier unterzeichnet wurde, das dafür verantwortlich ist, dass ich nun hier bin. Nicht, dass man sich schon vor meiner Geburt Gedanken über meine Zukunft gemacht hätte. Ganz im Gegenteil: Dass die Familien des Freundes nach Deutschland nachziehen, war ausdrücklich in der ersten Fassung des Papiers ausgeschlossen worden. Das Rotationsprinzip, dass der Freund nach zwei Jahren zurückkehrt, wurde auf Druck der Industrie aus dem Vertrag gestrichen. Es war schlichtweg zu teuer, ihn anzulernen, auszubilden und nach so kurzer Zeit wieder durch neue, ungelernte Arbeiter zu ersetzen. So blieb der Freund länger als geplant, holte seine Familie nach, verließ die barackenähnliche Sammelunterkunft und zog in die Stadt.

Ich stelle mir die Feier des Freundes als Talkshow vor, in der jeder meint, aufgrund des Jubiläums mitreden zu müssen. Aber eigentlich hat niemand so recht etwas zu sagen. Um zu vertuschen, dass die Beziehungsebene mit dem Jubilar fehlt, klammern sich die Teilnehmer an den Einzelfall. Durch Intervention entlang des „worst case“ gräbt man so lange, bis man etwas findet, an dem jeder Anstoß nimmt. Probleme des Freundes werden seiner Ethnie und Religion zugeschrieben, soziale Aspekte ignoriert, dafür aber Klischees und Vorurteile so lange bedient, bis sie einer Karikatur ähneln. Um von der eigenen Fehlbarkeit abzulenken, benennen die Talkshow-Gäste die Missstände, an denen sie ursächlich beteiligt waren, um sie gleich wieder zu relativieren. Das ist große Kunst der Perfidie. Schweigen ist Beweisführung mit anderen Mitteln, sagte Che Guevara. Ob er da die Disziplin Silben ohne Sinn einschloss, kann ich nicht mit Gewissheit sagen.

Natürlich dürfen auf einer Jubiläumsfeier alte Fotos und Videos des Geburtstagskindes nicht fehlen. Aber nicht, um seine Erfolge zu zeigen, oder wie er Krisen meisterte, wie er zurechtkam, seine Kinder großzog und in die Gesellschaft einbrachte. Nein, man zeigt willkürliche Bilder, die belegen sollen, warum der Gefeierte bis heute nix auf die Reihe bekommt. Am Ende der Party kommt dann immer der eine Stargast, den man einlädt, um die Stimmung auf Festzeltniveau zu bringen. Er darf wie ein Schlagerstar, dessen letzter Hit lange zurückliegt, ein Potpourri seiner griffigsten Floskeln vorbringen. Meist wird er begleitet von einer appetitlichen Nachwuchsinterpretin, die es wissen muss, kommt sie doch direkt aus der Umgebung des Jubilars.

Die Festzeltstimmungskanone tingelt durch die Fernseh-Republik, um davon abzulenken, wie wenig er zu Hause auf die Reihe kriegt. Und das Nachwuchsstarlet rührt in den Emotionen, mit dem sicheren Gespür, dass man an einem Thema nicht zu wachsen braucht, so lange man das Thema zum Wachsen bringt.

Ich fürchte, dass sich der Jubilar auf seiner eigenen Geburtstagsfeier ziemlich einsam fühlen wird. Oder wie mein Vater sagen würde: Gözden irak olan gönülden de irak olur – was dem Auge fern ist, ist auch dem Herzen fern.

Unsere Kolumnistin lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin.

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