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Hatice Akyün.

© Andre Rival

Mein Berlin: "Integer" ist das Wort 2012

Das Jahr 2011 ist das Jahr der politischen Fehltritte. Und wo immer ein Politpromi ins Straucheln gerät, sind die Moralapostel nicht weit. Unsere Kolumnistin über Sein und Schein von Berlin bis Hollywood.

Nun haben sie wieder frei für ein Jahr, die mit den umgehängten Bärten, den Zipfelmützen und roten Mänteln. Die Hülle des Weihnachtsmannes wird zurück auf den Bügel gehängt und verschwindet in der dritten Reihe. Mich fasziniert, wie sich kleine Kinder verzaubern lassen, auch wenn sie an der Existenz des Weihnachtsmannes zweifeln. Sie können Illusionen noch leben, deshalb sind sie auch so fragil und verletzlich. Die Aufgabe des Weihnachtsmannes besteht für mich darin, mit einer Inszenierung eine bleibende Erinnerung zu hinterlassen.

Genau genommen funktioniert dieser Trick auch bei uns Erwachsenen. Auch wir erliegen manchmal Illusionen, die man uns vorgaukelt. Wenn wir allerdings merken, dass uns jemand hinters Licht geführt hat, holen wir die Moralkeule heraus und werden päpstlicher als der Papst.

Im auslaufenden Jahr haben wir eine Reihe von Kostümierungen enttarnt oder enttarnt bekommen. Sich mit fremden Federn schmücken, das war die Stolperfalle, der so einige Politpromis zum Opfer fielen. Sie gingen fälschlicherweise davon aus, dass wir Bürger nur Führungspersonen wollen, die mit belegbarer Kompetenz besonders geeignet sind, uns zu vertreten und zu führen.

Es hat ja auch etwas Reizvolles, zu Lichtgestalten aufzublicken, deren Licht zu uns herunterstrahlt. Der positive Nebeneffekt ist, dass man sich nicht selbst kümmern muss, da die anderen schon so viel kompetenter erscheinen. Aber es gehören immer zwei dazu, die politischen Illusionen aufrechtzuerhalten: Der, der vorführt, und der, der sich vorführen lässt.

Etwas vorzugaukeln, was nicht ist, ist eine Kunst, mit der man normalerweise in die Künstlersozialkasse kommt. Eine Liga höher ist der Filmstar, der eine Rolle spielt, bei der keiner so genau wissen will, ob er selbst aus dem Fenster springt, am Felsvorsprung herumkraxelt oder während der Verfolgungsjagd in mörderischem Tempo durch die Innenstadt selbst am Steuer sitzt. Wir wollen die Täuschung, die Ablenkung, die Fata Morgana. Dass gedoubelt und am Computer nachgeholfen wird, blenden wir dabei aus.

Von Politikern erwarten wir, dass sie uns nicht die harte Wahrheit sagen, sondern uns eine weichgespülte Realität vorleben. Unser eigenes Leben ist ja schon bitter genug. Wer würde also nicht von einem Freund das Geld billiger nehmen, um sein Häuschen abzubezahlen? Oder mit dem reichen Kumpel Urlaub machen, weil das eigene Portemonnaie es nicht hergibt? Würden wir?

Wer nimmt, muss aber auch geben, sonst verliert man auf Dauer die Achtung vor sich selbst. Und so sehr ich verstehen kann, mal komplett vom Alltag entspannen zu könne, weiß ich auch, dass es mich irgendwann doch wieder einholt. Man ist eben nicht nur „Person“, sondern auch „Funktion“. Was „Person“ mit sich selbst ausmachen kann, wird bei „Funktion“ von Dritten bewertet. Und wenn „Person“ in „Funktion“ Möglichkeiten hat, dem Gönner etwas von seiner Großzügigkeit zurückzugeben, wäre das zwar menschlich, aber gegen die politischen Regeln.

In der Politik gibt es Redenschreiber, Berater und Dienstleister, die den Politiker richtig ausleuchten und dafür Sorge tragen, dass er als Person in der Funktion wahrgenommen wird. Aber es gibt kein Double für gefährliche Stunts.

Mein Lieblingswort für 2012 wird „integer“ sein. Ich habe kein Problem mit menschlichen Schwächen, aber zwischen dem seelenlosen Apparatschik und dem gewissenlosen Windhund gibt es noch etwas dazwischen. Jemand, der sich an die Regeln des Anstands hält, muss nicht perfekt und fehlerfrei sein. Freiheit funktioniert nur in Verbindung mit Verantwortung.

Oder wie mein Vater sagen würde: „Zenginin ayakucunda uyuyacagina, fakirin basucunda uyu“ – schlafe lieber am Kopfende eines Armen, als am Fußende eines Reichen.

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