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Berlin: Meinhard Nürnberger (Geb. 1945)

Er sagte: Ich bin kein Engel.

In der Jugend trug er Lederjacke, ein Halbstarker, immer mit den Kumpels unterwegs. Seine Frau lernte er an der Schießbude auf dem Rummel kennen. Er schoss ihr einen Teddybär. Er sagte: Ich bin kein Engel – das machte ihn erst recht interessant. Am Tag nach seinem 21. Geburtstag heirateten sie.

Weil seine Freunde nach der Arbeit um die Häuser zogen, tat er das auch. Er war jung, er dachte sich nicht viel dabei. Glaubte wohl auch, echte Männer müssten so sein, ungezähmt, schweigsam, ein bisschen wie James Dean.

Seine Kindheit war gewesen wie die so vieler Jungen seines Jahrgangs, vaterlos. Mit der Mutter lebte er in einem Zimmer. Die jahrelange Not hatte die Frau hart gemacht, keine Zeit für Zärtlichkeiten. Seinen kleinen Bruder musste sie eine Zeit lang ins Waisenhaus geben. Während der Blockade hungerten sie, und als Meinhard vierzehn war, schickte sie ihn in die Ausbildung zum Schriftsetzer.

Er mochte die Arbeit bei der Zeitung, den Schichtdienst, den Termindruck. Er spürte, dass er funktionierte. Morgens bei der Konferenz machte er auf einem winzigen Zettel Notizen, auf welche Seite welche Anzeige kam, wie groß sie war. Präzisionsarbeit. Und immer wieder Fortbildungen, neue Systeme, neue Abläufe. Erst hieß sein Beruf Schriftsetzer, dann Maschinensetzer, dann Anzeigenfotosetzer, zuletzt war er Layouter im Fotosatz. Aber eigentlich ging es immer um dasselbe: die Druckvorlage der Zeitungsseiten herstellen. Nur mit immer neuen Mitteln.

Die Kollegen, die Zeitung, das war sein zweites Zuhause – was nicht förderlich war für das Familienleben. Als die ältere der Töchter 17 war, trennte sich seine Frau von ihm. Er fiel aus allen Wolken. Sie wollte die Scheidung, er sagte Nein, 20 Jahre lang.

Er blieb in der Familienwohnung über den Bahngleisen in Spandau. Und er lernte eine neue Frau kennen. Ich bin nun mal so ein Typ, sagte er, ich brauche immer jemanden. Es ging ihm wieder gut, auch wenn der Schmerz über das verlorene Familienglück nie ganz verflog.

Mit der neuen Partnerin reiste er nach Hong Kong, Australien und Bora Bora, besuchte die Autorennen auf der Avus. Suchte neue Möbel für die Wohnung aus, kleidete sich sorgfältig, jeden Tag. Dazu gehörte die Stoffhose und das gebügelte Hemd, beides gerne schwarz, und auch der Besuch beim kleinen Schuhmacher am Kurfürstendamm, drei Paar schwarze handgenähte Stiefeletten gab er alle paar Jahre in Bestellung. Sein allerschönster Besitz war der metallic-blaue Porsche 911, der meistens in Spandau in der Garage stand. Meinhard Nürnberger fuhr mit der S-Bahn und dem Bus zur Arbeit. Das Auto war für die Wochenendausflüge da und für die Reisen nach Dänemark.

Es kam vor, in vertrauten Momenten, dass er vor den Töchtern von der Exfrau schwärmte, von ihren Augen, wie wunderbar sie war als Mutter. Doch wenn er sie bei Familienfesten traf, stichelte er lieber kunstvoll. Sie nahm es nicht übel, sie wusste ja, dass er nicht zeigen konnte, was er empfand.

„Gut, dass ich nicht mehr in die alte Mühle muss“, sagte er zu seinen Töchtern, als sein Vorruhestand begann. Wieder stand ein Systemwechsel in der Zeitung an, wieder hätte er seinen Beruf neu erlernen müssen. Das wollte er nicht mehr. Aber schon nach wenigen Wochen war klar: Fürs Leben ganz ohne die Arbeit war dieser Mann nicht geschaffen.

Seine Beziehung zerbrach, er verlor die Freude an allem. Am wöchentlichen Spiegel-Lesen, den Autorennen, dem Enkelkind, den Besuchen bei den „Wühlmäusen“. Er verkaufte sogar den Porsche und willigte nun doch noch in die Scheidung von seiner Ehefrau ein.

Fünf Monate, nachdem sein offizieller Ruhestand begonnen hatte, war Meinhard Nürnberger tot. Kirsten Wenzel

Kirsten Wenzel

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