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Notgeld 1922. Millionenstadt. Darstellung von Groß-Berlin auf einem 1000-Mark-Schein von 1922.

© privat

Meinung zur Gründung Großberlins: Ein Leitartikel von 1920

Wie das „Berliner Tageblatt“ die Bildung der Einheitsgemeinde bewertete. Der Leitartikel vom 27. April 1920 im Wortlaut.

Über zahllose kommunale und parlamentarische Klippen hinweg ist die neue Stadtgemeinde Berlin im Hafen der Gesetzgebung gelandet. Um den Namen des neuen Gemeinwesens brauchte man sich nicht lange zu streiten. Berlin als die Mutterstadt hat den ersten Anspruch darauf, sich im Kranz seiner Tochterstädte zu behaupten. Die Frage war nur, ob es als „Groß-Berlin“ weiterleben sollte… Aber es dauert hoffentlich nicht lange, bis sich der alte Name Berlin auch auf die neue Stadtgemeinde eingebürgert hat.

Wien steht hinter Neu-Berlin

Durch den Zusammenschluss mit den städtischen und ländlichen Gemeinden seiner Umgebung wächst sich das neue Berlin zu einer der wenigen Riesenstädte aus, die in der bisherigen Geschichte der Kulturmenschheit kein Vorbild haben … Sieht man von New York ab, das bereits über alle europäischen Maßstäbe hinausgewachsen ist, so wird Neu-Berlin nur um ein geringes von London und Paris überflügelt werden. Wien steht bereits hinter ihm zurück und dürfte bald nur noch in einem weiten Abstand folgen.

Es ist ein Zeichen des unüberwindlichen Lebenswillens und hoffentlich auch der unüberwindlichen Lebenskraft des deutschen Volkes, dass es in dieser Zeit der nationalen und wirtschaftlichen Depression überhaupt den Mut findet, eine städtische Einheit derartigen Umfangs zu schaffen. Neu-Berlin mit seinen fast vier Millionen Einwohnern ist nur verständlich und lebensfähig als die Zusammenballung einer ungeheuren nationalen Energie, die sich auch durch den furchtbaren Rückschlag des Weltkrieges nicht entmutigen lässt…

Zuversichtlich in das neue Berlin

Mit einem gewissen Grade sind alle solche organisatorischen Maßnahmen ein Sprung ins Dunkle. Das Gesetz kann nur einen allgemeinen Rahmen schaffen. Sein Inhalt muss erst aus der Tatkraft und dem Gemeinsinn der Berliner Bürgerschaft erzeugt werden. Deshalb gilt es jetzt, alle Meinungsverschiedenheiten beiseite zu schieben, alle Verärgerung über Bord zu werfen und das einigende Band in einer großzügigen Gemeinschaftsarbeit für die Lebensfähigkeit des neuen Berlins zu suchen.

Das Gesetz über die neue Stadtgemeinde selbst bietet eine brauchbare Handhabe zur Verwirklichung der Riesengemeinde. Es hat eine neue Kombination zwischen Vereinheitlichung und Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Glieder stattgefunden. Der Aufbau der übrigen infrage kommenden Metropolen ist nach Möglichkeit berücksichtigt worden, aber schließlich ist eine originale Schöpfung zustandegekommen, die kein direktes Vorbild hat.

Zahlreiche Kompromisse wurden geschlossen

In einzelnen Teilen zeigt das Gesetz die Spuren zahlreicher Kompromisse, wie sie sich aus den Rücksichten auf die historische Entwicklung, auf die Beziehungen der Reichshauptstadt zur Provinz Brandenburg, auf die verschiedenartigen Verhältnisse der westlichen und östlichen Vororte und auf den weit fortgeschrittenen Ausbau einzelner Vorortgemeinden ergeben.

Auf dem Gebiet der Schule hat sich das Selbstbestimmungsrecht der Einzelgemeinden durchgesetzt, und auch der Selbstverwaltung der einzelnen Bezirke sind Zugeständnisse gemacht worden. Die Frage bleibt offen, ob hier überall der richtige Mittelweg gefunden worden ist.

Auch bei der Zusammenlegung der einzelnen bisher selbstständigen Gemeinden zu Bezirken bleiben manche Wünsche unberücksichtigt. Aber das Gesetz selbst bietet die Möglichkeit, einzelne Bestimmungen, die sich als unpraktisch erweisen sollten, zu korrigieren. Der ganze Zusammenschluss zur Einheitsgemeinde behält eine gewisse Elastizität, die automatisch zur Beseitigung von Härten führen dürfte …

Der Autor (1863-1934) war innenpolitischer Redakteur des „Berliner Tageblatts“, zuvor tätig bei der Hamburger „Neuen Zeitung“ und der „Vossischen Zeitung“. Während des Ersten Weltkriegs war er Berliner Stadtverordneter der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei (FVP).

Paul Michaelis

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