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Menschen am Flughafen: Die heimliche Gesellschaft der Flaschensammler am TXL

Sie freuen sich, dass Tegel doch noch länger geöffnet hat: Menschen, die den Flughafen zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht haben. Sie sammeln Flaschen, manchmal übernachten sie auch hier. 40 bis 50 Personen, die kaum einer kennt.

Von Sandra Dassler

Die letzten Aufrufe für verspätete Passagiere sind verstummt. Die Flugzeuge nach Mallorca und Korfu heben gerade ab. Das Bodenpersonal hinter den Schaltern schnauft durch. Ein Zollbeamter kauft zwei trockene Brötchen mit einem Stück Butter. Es ist 6 Uhr 15 und schon hell, da löst sich im Flughafen Berlin-Tegel eine heimliche Gesellschaft vorübergehend wieder auf: die heimliche Gesellschaft der Flaschensammler. Sie beendet ihre erste Schicht.

Anne-Marie Melzer* setzt sich, die Brille lässig ins Haar gesteckt und mit einer bunten Zeitschrift vor sich, im Café am Terminal C. Sie ist 60 Jahre alt, und ihrem gepflegten Äußeren sieht man an, dass sie lange im Büro gearbeitet hat. In dem Café hat sie noch niemals etwas konsumiert. Sündhaft teuer. Sie rechnet in Flaschenpfand, in 15- und 25-Cent-Einheiten. Für einen Milchkaffee muss sie mindestens zehn leere Flaschen sammeln, für ein belegtes Brötchen gar 15. Das wäre knapp die Hälfte von dem, was sie pro Tag zusammensammelt.

Seit zwei Jahren kommt sie zum Flughafen. Zwei-, dreimal die Woche, manchmal auch öfter. Sie ist Teil der geheimen Gesellschaft geworden, sie hat deren Regeln kennen- gelernt, deren Mitglieder und die Reviergrenzen, wer hat Vorrecht an welchen Mülleimern? Und sie hat sich mit den anderen gefreut, als die Eröffnung des neuen Großflughafens BER platzte, die zur Schließung von Tegel führen wird – und damit auch zum Ende ihrer kleinen Welt.

An diesem Morgen hat sie schon acht Flaschen aus den Mülleimern gefischt, kein schlechter Anfang. Sie fischt schnell, sie fühlt das Pfandgut, das sie zuvor erspäht. Dass ihre Augen dann suchend schauen, ist am Flughafen kein Problem. Da schauen immer alle suchend. Welches Gate ist meins, wo ist mein Koffer, mein Ticket, mein Kind? Wie spät ist es, wie viel Zeit hab ich noch? Weil alle immer nach irgendwas Ausschau halten, werden die Sammler von den meisten Fluggästen gar nicht wahrgenommen. Gut gekleidet sind sie meist, oft mit Kofferwagen unterwegs, auf der sich wie bei den Reisenden Taschen oder Tüten befinden. Der Blick und der Griff in die Mülltonnen erfolgen routiniert, wie auch das Beobachten der Passagiere, die in der Schlange vor den Schaltern ihre Flaschen leer trinken und damit dann irgendwohin müssen.

40 bis 50 Stammsammler teilen sich die Flaschen, die durchschnittlich etwa 40.000 Fluggäste täglich zurücklassen. Dazu kommen noch die Gelegenheitssammler, und seit Jahresbeginn dürfen in Tegel sogar die Putzfrauen und -männer Flaschen mitnehmen. Der Markt ist also hart umkämpft, die Konkurrenz ist härter geworden, und manche halten sich nicht mehr an die Spielregeln.

„Früher drehte man da seine Runden, und wer zuerst an der Tonne beziehungsweise am Papierkorb war, kriegte die Flasche“, sagt Anne-Marie Melzer. „Heute muss man aufpassen, dass da nicht vielleicht schon einer von den aggressiven Sammlern in der Nähe ist. Die nehmen einem auch die aus der Tonne gefischten Flaschen wieder ab.“ Auch komme es seit neuestem vor, dass die Fluggäste direkt um ihre Pfandflasche angebettelt würden. Eine Schande, findet Anne-Marie Melzer. „Das ist Nötigung“, sagt sie: „Aber Sammeln ist in Ordnung.“

Sie selbst kam zufällig zur Sammlerei. Ihren Bürojob musste sie vor zwei Jahren aufgeben. Sie war krank geworden, chronisch krank – „ich konnte einfach nicht mehr am Schreibtisch sitzen“. Sie beantragte Erwerbsunfähigkeitsrente, aber das Verfahren zog sich in die Länge. Bei einem Treffen mit einer Bekannten, die auf der Durchreise war, beobachtete sie die Flaschensammler am Flughafen Tegel und fand das keine schlechte Idee für ein Zubrot. Dabei hat sie sich anfangs geschämt, als sie die Flaschen aus den Müllkörben holte.

„Man kann sich etwas dazuverdienen, ohne zu betteln“

Deshalb wohl hat sie sich damals vorgestellt, ein Buch über ihre Erlebnisse am Flughafen zu schreiben. Gewidmet dem früheren Bundesumweltminister Jürgen Trittin, der vor zehn Jahren das Dosenpfand einführte und damit den Beruf des Flaschensammlers hoffähig machte. „Man kann sich etwas dazuverdienen, ohne zu betteln“, sagt Anne-Marie Melzer, „und hat sogar das gute Gefühl, etwas für die Umwelt zu tun.“ Es ist inzwischen kurz vor acht Uhr, und Terminal C füllt sich mit Reisenden. Anne-Marie Melzer verlässt ihren Platz im Café. Die zweite Schicht geht los.

Gegen neun sind im Hauptterminal viele Sammler unterwegs. Auch die „Flughafenfrau“, über die vor ein paar Wochen einige Zeitungen schrieben, weil sie ständig am Flughafen lebt. Andere Sammler bezeichnen sie als hochnäsig, weil sie mit keinem spricht. Nicht einmal mit dem Seelsorger, der ihr Hilfe anbot. „Nicht ansprechen, nicht berühren“, zischt sie, wenn sich jemand nähert. Sie muss um die 40 sein, schiebt jeden Tag einen Kofferwagen mit ihrer Habe durch die Gänge.

Eine Putzfrau erzählt, dass die „Flughafenfrau“ nicht nur sich, sondern auch ihre Kleidung in den Toiletten wäscht. Dann breite sie Papierhandtücher auf dem Boden aus und hänge die tropfenden Sachen auf Waschbecken und Haken. Manchmal sieht man sie mit einem Laptop in einer Ecke sitzen, manchmal schläft sie auf einem Sitz. Seit es draußen wärmer geworden ist, übernachtet sie nicht immer im Flughafen.

Gegen Mittag kommt eine junge Tschechin zum Sammeln. Angeblich studiert sie, erzählt von Kursen an der Universität Dahlem. Ihre Flaschen verstaut sie in zwei großen schwarzen Rucksäcken. Auch der „Spanier“ ist eingetroffen – ein etwa 30-jähriger Mann, der ein helles Basecap trägt, einen Rollkoffer hinter sich her zieht und von einem Gate zum anderen rennt. Manchmal ist seine Lebensgefährtin dabei. Die Sammler erzählen, dass die beiden fünf Kinder haben, alle im Heim.

„Ich habe versucht, mit dem Spanier zu reden“, sagt ein älterer Herr mit zwei je zur Hälfte gefüllten Plastiktüten, „aber er will nicht.“ Der ältere Herr sieht selbst sehr traurig aus und will eigentlich nichts von sich erzählen. Tut es dann aber doch: In Wahrheit sei er gar nicht zum Flaschensammeln hier, sagt er. Sondern, weil seine Frau verstorben ist.

Er zieht ein Papiertaschentuch aus der Tasche und setzt sich. Das Schlimme sei gewesen, dass es so plötzlich geschah. Frühmorgens um fünf habe er ihr den Tee und die Medikamente gebracht – sie war doch nur ein leichter Pflegefall –, und als er um sechs Uhr wieder nach ihr sah, war sie tot. „Ich komm’ da nicht drüber weg“, sagt der Mann: „Und weil ich es zu Hause nicht aushalte, komme ich eben hierher, seit mehr als einem Jahr.“

Er wischt sich mit dem Papiertaschentuch über die Augen. „Ich werde so lange bleiben, bis der Flughafen geschlossen wird“, sagt er: „Dann werde ich die Sachen meiner Frau wegwerfen, die Wohnung umbauen und versuchen, neu anzufangen.“

Auch andere Sammler haben ihre weitere Lebensplanung mit dem Flughafen verbunden. Eine Frau aus Serbien hat gerade ihren Mietvertrag noch einmal verlängert. Seit 1976 hat sie in Berlin gelebt und gearbeitet. Ihre deutsche Rente sei nicht hoch, sagt sie. Aber in ihrem Heimatland könne sie davon ganz gut leben. Eigentlich wollte sie Anfang Juni nach Hause. Aber nun bleibt sie noch, jedenfalls solange wie Tegel geöffnet ist.

Auch Kalle und Ede haben sich über den geplatzten Start des neuen Großflughafens gefreut. Die Mittvierziger sammeln in Tegel seit zehn Jahren leere Flaschen – aus dem einzigen Grund, sie mit dem Erlös wieder in volle zu verwandeln.

Korn und Wodka haben tiefe Furchen in ihre Gesichter gegraben, und neben ein paar serbischen und türkischen Rentnerinnen sind sie die einzigen nachlässig gekleideten Sammler. Wenn Tegel schließt, werden sie wahrscheinlich zum Bahnhof Zoo umziehen, wohl wissend, dass dies die Stammsammler dort nicht erfreuen wird.

Es ist inzwischen Nachmittag geworden. Jetzt erscheint wie immer um diese Zeit ein älterer Herr, der auf keinen Fall in der Zeitung genannt werden will. Er arbeite nämlich bei seinem Sohn in der Werkstatt, und wenn der erführe, dass sein Vater Flaschen sammelt – nicht auszudenken.

Auch Anne-Marie Melzer kommt am Nachmittag noch einmal für ein paar Stunden zum Flughafen. Zwischendurch hat sie die morgens gesammelten Flaschen zum Discounter gebracht, sich etwas zu essen gemacht und wegen des frühen Aufstehens ein wenig geschlafen.

Jetzt plaudert sie ein paar Worte mit dem „Grauen“, so nennt sie den Herrn, der nur nachmittags sammelt, weil er am Vormittag immer Besuch von einer Krankenschwester bekommt. Manchmal hat er epileptische Anfälle, einmal haben sie ihn schon vom Flughafen aus ins Krankenhaus gebracht, aber ein paar Tage später war er wieder da.

Niemand weiß, ob man am neuen Großflughafen auch so kulant sein wird wie hier

Nicht mehr da ist das polnische Pärchen, das die meiste Zeit betrunken auf einer Sitzreihe lag. „Die wollten angeblich zur Spargelernte“, sagt Anne-Marie Melzer: „Allerdings waren sie schon im Februar hier.“

Im Terminal D packt kurz vor 19 Uhr der „Sportlehrer“ seine riesigen Plastiktüten. „Mindestens 60 Flaschen“, freut er sich. „Aber bitte schreiben Sie meinen Namen nicht. Ich trainiere Kindermannschaften, es muss niemand erfahren, wie ich meine Rente aufbessere.“ Er schiebt sein Basecap über die Stirn: „Ist ja leider bald vorbei.“ Wie die meisten Sammler von Tegel wohnt er in der Gegend, der Weg nach Schönefeld ist ihm zu weit.

Außerdem werden sie dort wohl nicht mehr wie in der Tegeler Haupthalle direkt an die Gates kommen, weil der zentrale Sicherheitscheck angeblich nur mit Flugticket passiert werden darf. Und niemand weiß, ob man am neuen Großflughafen auch so kulant sein wird wie hier, wo man nicht nur Sammler duldet, sondern auch gestrandete Menschen leben und übernachten lässt: die „Flughafenfrau“ etwa oder auch vor drei Jahren eine psychisch kranke Finnin.

Am Münchner Flughafen beispielsweise ist Flaschensammeln streng verboten. Die Betreibergesellschaft FMG hat vor zwei Jahren einen 71-Jährigen sogar verklagt, weil dieser Flaschen in den Terminals sammelte. Schließlich stand auf den Abfalleimern und Flaschenbehältern, dass ihr Inhalt „Eigentum der FMG“ ist.

Als der Mann, den sie hier „Bulgare“ nennen und wegen seiner Aggressivität fürchten, kürzlich auf die Idee kam, sein Domizil nach Stockholm zu verlegen, schickten ihn die schwedischen Behörden mit dem nächsten Flug zurück nach Berlin. Schade, fanden die anderen. Sie wären froh gewesen, ihn los zu sein. Erst neulich sei er wieder auf eine Sammlerin losgegangen. Und niemand hier will für eine leere Flasche Gesundheit oder gar Leben riskieren.

Am Frankfurter Flughafen haben rumänisch-bulgarische Banden die herkömmlichen Sammler schon verdrängt. Sie sind bandenmäßig organisiert, betteln Reisende aggressiv an und stehlen Gepäckwagen. Nachts wird dann gezecht. In Berlin gebe es eine solche Szene noch nicht, sagt die Polizei. Aber die Sammler, die zu den Abendmaschinen kommen, sind auch oft angetrunken.

Deshalb verlässt Anne-Marie Melzer den Flughafen zwei Stunden, bevor das letzte Flugzeug startet. Sie wird wiederkommen, so lange jedenfalls, bis Tegel schließt. Dann ist für sie Schluss. Die zwei, drei Sammler, mit denen sie etwas engeren Kontakt hatte, werden ihr nicht fehlen, sagt sie. Die Flughafenatmosphäre schon eher, dieses diffuse Gewimmel von Menschen, die irgendwohin unterwegs sind oder von irgendwoher kommen; diese Flüchtigkeit von Begegnungen; diese grotesk beschleunigte Vergänglichkeit.

Außerdem hat es sie beim Sammeln immer getröstet, dass sie – wenn sie denn gewollt hätte – ja selbst jederzeit in eine der Maschinen hätte einsteigen können. Und irgendwohin fliegen.

„Vielleicht“, sagt Anne-Marie Melzer, und sieht in diesem Moment sehr stolz aus, „vielleicht lade ich meine beste Freundin am allerletzten Tag von Tegel in dieses sündhaft teure Café am Terminal C ein.“ Die Freundin wisse natürlich nicht, dass sie hier zwei Jahre lang „gearbeitet“ hat. Sie wird es ihr auch nicht erzählen. „Ich werde uns diesen sündhaft teuren Kaffee bestellen“, sagt Anne-Marie Melzer. Und vielleicht schafft sie es, nicht nachzurechnen, wie viele Flaschen sie dafür hätte sammeln müssen.

* alle Namen geändert

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