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Sie kämpfen für Inklusion. Stefan Schenck (l.) mit seinem Sohn Oskar und Duygu Özen.

© Thilo Rückeis

„Menschen helfen!“-Spendenaktion: Die Gruppe „Statt Werkstatt“ lässt Traumjobs wahr werden

Die „Statt Werkstatt“ hilft jungen Menschen mit geistiger Behinderung bei der Suche nach ganz „normaler“ Arbeit. Nun bittet die Initiative um Spenden.

Bei seiner 27. Weihnachtsspendenaktion „Menschen helfen!“ bittet der Tagesspiegel um Spenden für 62 soziale Initiativen, Vereine und Hilfsorganisationen vor allem aus Berlin, aber auch in Brandenburg und im Ausland. In unserer Spendenserie stellen wir zwölf Projekte stellvertretend für alle anderen vor. Heute: Die Elterngruppe „Statt Werkstatt“, die sich für die Inklusion ihrer geistig behinderten Kinder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzt.

Duygu Özen hat es geschafft. Mit ihrem Rollstuhl fährt sie durch das Coworking-Space „Tüchtig“ im Wedding, ein riesiges Loft, in dem Tische in unterschiedlichen Höhen stehen. Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten hier zusammen. Dafür, dass auch Dugyu Özen hier arbeiten darf, hat die 23-Jährige lange gekämpft. „Ich wollte meinen Willen durchsetzen“, sagt sie. „Und nicht das machen, was sie wollen.“

„Sie“, das ist die Arbeitsagentur Berlin-Nord. Da Özen eine Lernschwäche hat, sollte sie ihre Ausbildung in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung machen – für Özen keine Option. Zahlreiche Briefwechsel, eine Klage und eine Online-Petition hat es gebraucht, damit sie ihren Traumjob endlich beginnen konnte. Geholfen hat ihr dabei auch die Gruppe „Statt Werkstatt“. Damit sich noch mehr Menschen mit Behinderung ihren Traum erfüllen können, bittet die „Statt Werkstatt“ jetzt um Spenden.

Aus den Werkstätten herauszukommen ist schwer

Das Ehepaar Stana und Stefan Schenck haben die Interessengemeinschaft im Sommer 2018 gegründet, inzwischen sind neun junge Menschen und ihre Angehörigen dabei. „Inklusion in der Schule ist ein großes Thema“, sagt Stana Schenck. „Aber wie es weitergeht, daran denkt keiner.“ In ihrer Gruppe machen sich die Eltern gegenseitig Mut und geben sich Ratschläge im Umgang mit den Arbeitsagenturen. „Kafkaesk“ nennt eine Mutter die Erlebnisse dort.

Viele der Sachbearbeiter in den Arbeitsagenturen seien nicht geschult im Umgang mit beeinträchtigten Menschen und würden diese häufig in eine Schublade stecken. Für Menschen mit geistiger Behinderung lautet das Verdikt der Arbeitsagenturen nach der Schulzeit fast immer „Werkstatt“.

Bundesweit arbeiten mehr als 300 000 Menschen in den Werkstätten, 75 Prozent davon sind Menschen mit geistiger Behinderung. Hier erledigen sie meist einfache Aufgaben, durchschnittlich 180 Euro im Monat verdienen sie dabei. Aus den Werkstätten in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu kommen, ist schwer, die Vermittlungsquote liegt bei unter einem Prozent.

35.000 Menschen unterschrieben eine Petition

Für Duygu Özen war klar, dass sie nach der Schule in einer gemischten Gruppe arbeiten wollte. „An einem normalen Arbeitsplatz“, wie sie sagt. Schon auf der Schule für geistig Behinderte habe sie sich unterfordert gefühlt, erzählt die junge Frau, die mit Spina bifida, einer Fehlbildung der Wirbelsäule, geboren wurde. Dort hätten sie geübt, wie man einen Frühstückstisch deckt. „Das war für mich wie im Kindergarten.“

Özen wurde aktiv, machte Praktika und erhielt schließlich ein Ausbildungsangebot. Trotzdem bestand die Arbeitsagentur darauf, dass sie ihre Ausbildung in der Werkstatt macht. Als „Krise“ beschreibt Özen diese Zeit heute. Sie klagte und startete eine Petition, die damals mehr als 35 000 Menschen unterschrieben haben. Erst aufgrund dieses öffentlichen Drucks bewilligte ihr das Amt die Ausbildung und übernahm die Kosten für die Begleitperson, die Özen im Arbeitsalltag zu Seite steht.

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Dass ihre Kinder ihr Leben lang Unterstützung bei der Arbeit brauchen werden, ist den Eltern in der „Statt Werkstatt“-Gruppe bewusst. „Aber das sollte sie nicht ausschließen vom allgemeinen Arbeitsmarkt“, sagt Stana Schenck. Auch ihr Sohn Oskar, der das Downsyndrom hat, erhielt nach einer psychologischen Begutachtung der Arbeitsagentur die Prognose, er sei „täglich weniger als drei Stunden leistungsfähig für wirtschaftlich verwertbare Arbeit“.

Doch die Schencks wussten, dass es über das sogenannte „Persönliche Budget“ möglich ist, Oskars Assistenten für die Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bezahlen. Dieses Geld steht jedem Menschen mit Behinderung zu. Die Schencks machten Druck und bekamen schließlich die Bewilligung der Arbeitsagentur.

Vielen Eltern fehlen Zeit und Ressourcen

Heute arbeitet Oskar drei Tage pro Woche in der Sozialstation der Heinz-Brandt-Schule in Weißensee. In der Pause bringt er Kindern Tricks mit seinem Diabolo bei. Sein rotes Diabolo hat er auch in die Räume des „Tüchtig“ mitgebracht, er wirft es in die Luft und fängt es kunstvoll wieder auf. Acht Jahre trainiert er schon, wenn er nicht in der Schule ist, ist er Artist in einem inklusiven Zirkus. Er liebe diese Abwechslung, sagt der 20-Jährige.

[Dieses Jahr rufen wir unsere Leser, die Internet- und Social-Media-User zum 27. Mal auf, zugunsten von ausgewählten Projekten vor allem im Kinderschutz zu spenden, aber auch für arme, alte und kranke Menschen. Die Spendenserie startete wieder am 1. Advent. Überweisen können Sie gern aufs Spendenkonto, Empfänger: Spendenaktion Der Tagesspiegel e.V., Verwendungszweck: „Menschen helfen!“, Berliner Sparkasse IBAN: DE43 1005 0000 0250 0309 42. BIC: BELADEBE. Bitte Namen und Anschrift für den Spendenbeleg genau und leserlich notieren. Onlinebanking ist möglich.

DAS BENEFIZ-ABO: „Tagesspiegel verschenken und dabei Gutes tun!“ – unter diesem Motto hat der Spendenverein des Tagesspiegels mit dem Verlag ein Benefiz-Abo als Geschenk aufgelegt. Somit können unsere Leserinnen und Leser jetzt den Tagesspiegel im Abonnement an Freunde, Verwandte oder eine soziale Einrichtung verschenken: einen, drei oder sechs Monate. Je verschenkten Monat zum Abopreis von 56,40 Euro spendet der Tagesspiegel 20 Euro an die traditionelle Aktion „Menschen helfen!“ für bedürftige Menschen in Berlin, Brandenburg und dem Ausland. Alle Infos zum Benefiz-Geschenk- Abo: www.tagesspiegel.de/verschenken. Fragen per Telefon? Mo-Fr 7-19.30 Uhr; Sa-So 8-12 Uhr: (030) 29 02 15 50.]

Die Schencks arbeiten seit Oskars Geburt haupt- und ehrenamtlich zum Thema Inklusion. Viele Eltern behinderter Kinder haben jedoch weder Zeit noch Ressourcen, um sich mit der Arbeitsagentur anzulegen. Ihnen will die „Statt Werkstatt“-Gruppe helfen. Deshalb brauchen sie einen Raum, in dem sie andere Eltern beraten können, bevor sie zur Agentur gehen. „Eltern sollen wissen, was ihre Rechte sind“, sagt Stefan Schenck. „Wir wollen, dass die Barrieren dauerhaft verschwinden.“

Zusammenbringen statt separieren

Neben den konkreten Fällen geht es den Schencks auch um ein neues Verständnis von Teilhabe in Gesellschaft und Politik. „Wir sollten Menschen zusammenbringen, statt sie zu separieren“, sagt Stana Schenck. Trotz der vielen Hürden haben die Eltern der „Statt Werkstatt“ für ihre Kinder Ausbildungsplätze in Schulen, in der Bibliothek oder im Garten- und Landschaftsbau gefunden. Die Geschichten derer, die es geschafft haben, wollen die Schencks auf einer Webseite als „Mutmachgeschichten“ veröffentlichen.

Eine davon ist die von Duygu Özen, die jetzt mit behinderten und nichtbehinderten Menschen zusammenarbeitet, wie sie es immer wollte. „Jede Person soll selbst entscheiden, wo und was sie arbeiten möchte“, sagt Özen. Im „Tüchtig“ organisiert sie Veranstaltungen zum Thema Inklusion und prüft Texte in leichter Sprache auf ihre Verständlichkeit. Das kann sie besser als viele andere.

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