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Messerattacke in Neukölln: Polizei sieht Rachegefahr

Nach der tödlichen Messerattacke auf einen 18-Jährigen sprechen Jugendliche in Neukölln von Vergeltung. Polizeibeamte besuchen Familien und Treffpunkte im Kiez, um über die Freilassung des mutmaßlichen Täters zu sprechen.

Es ist eine explosive Mischung. Trauer und Wut bestimmen die Atmosphäre im Kiez rund um die „Weiße Siedlung“ in Neukölln. In dem Neubauviertel macht bei den Jugendlichen nach der tödlichen Messerattacke auf den 18-jährigen Jusef El-A. das Wort „Rache“ die Runde. „Ich kann zu hundert Prozent garantieren, dass das ein Nachspiel haben wird. Das hier ist ein eigener Kosmos mit eigenen Gesetzen“, beschreibt Burak K. die angespannte Lage. Sein ganzes Leben hat er hier verbracht, das Opfer Jusef kannte er vom Sehen. Alle im Kiez würden momentan über Jusef reden – und den Täter, den die Polizei am Dienstag schon wieder freigelassen hatte.

Der mutmaßliche Messerstecher Sven N. (34) hatte sich nach der Tat bei der Polizei gestellt und die Attacke gestanden. Nach den Vernehmungen erging allerdings kein Haftbefehl, weil die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass er aus Notwehr handelte. Die Ermittler wissen, dass dies im Kiez viele nicht verstehen – und reagierte offenbar sofort. „Uns ist eine mögliche Bedrohungslage bekannt“, sagt Polizeisprecher Stefan Redlich. Deshalb seien Beamte in die Familien, zu Betroffenen und zu Begegnungsstätten geschickt worden, um Gespräche zu führen. Keine normalen Streifenbeamten, sondern Fachkräfte des Arbeitsgebiets Integration und Migration. Sie verstehen sich als „Bindeglied" zwischen Polizei und Migrantenorganisationen. „Wir haben den bisher bekannten Tatablauf transparent gemacht und auch deutsche Gesetze erklärt – etwa, was Notwehr ist“, erklärt Redlich. Es sei wichtig gewesen, früh auf die Kiezbewohner einzuwirken, damit sich keine Gerüchte verselbständigen, die „zu einer emotionalen Aufladung führen können“. Ob Sven N. nun von der Polizei geschützt wird und wenn ja, wie – dazu gibt es am Mittwoch keine Auskunft. Derzeit liegt der 34-Jährige mit dem Verdacht auf Schädelbasisbruch in einer Klinik. Er war bei der Auseinandersetzung am Sonntag selbst verletzt worden. Sein Zustand hatte sich während der Vernehmung immer weiter verschlechtert.

Sven N. war am Sonntag seinem Freund Oliver H. (39) nach einer Prügelei auf dem Bolzplatz der Siedlung zur Hilfe geeilt. Vor dem Haus des Freundes in der Fritzi-Massary-Straße kam es dann zur tödlichen Auseinandersetzung: Eine Gruppe von etwa 20 Jugendlichen hatte sich bewaffnet vor dem Haus aufgebaut und die Männer herausgefordert. Ohne die Polizei zu alarmieren war Sven N. daraufhin mit einem Küchenmesser nach draußen gegangen – laut Ermittlern und Zeugen, um die Lage zu beruhigen. Erfolglos. Nach eigener Aussage wurde Sven N. von mehreren Jugendlichen attackiert – aus Angst um sein Leben, habe er um sich gestochen und dabei Jusef El-A. ins Herz getroffen.

Warum war Jusef El-A. am Tatort?

Doch aus welchem Grund war Jusef El-A., der offenbar nicht bei der Schlägerei zuvor am Bolzplatz dabei war, am Tatort? In seiner Funktion als Jugendbeirat im Quartiersmanagement, der sich für ein friedliches und besseres Miteinander im Kiez einsetzt? Wollte er den Streit schlichten? Oder war er von den Kumpels zur Verstärkung gerufen worden?

Diese Fragen beschäftigen derzeit auch das Quartiersmanagement (QM). Die Mitarbeiter können sich nicht vorstellen, dass Jusef El-A. Streit gesucht oder gar zur Eskalation beigetragen haben könnte. Hier gilt er als engagierter und besonnener Kiezarbeiter.

Fest steht jedoch, dass sowohl Opfer als auch Täter schon vor dem Gewaltausbruch bei der Polizei bekannt waren. Jusef El-A. wegen schweren Diebstahls. Und der Tatverdächtige Sven N. als Gewalttäter – er wurde wegen einer gefährlichen Körperverletzung im Jahr 2006 zu einer mehrmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt.

Sven N. kennt den Kiez gut. Lange Zeit hat er in der Nähe der Fritzi-Massary-Straße gewohnt, bis heute besucht er hier regelmäßig deutsche und arabische Freunde. Doch nicht bei allen aus der Siedlung ist er beliebt. Aufgefallen sei er durch lautes und aggressives Verhalten, berichtet eine Anwohnerin. „Ein Wort reichte, und er tickte völlig aus.“ Auch Sabine Gottschalk, die schon seit 28 Jahren hier wohnt, kennt Sven N. Den Kontakt habe sie aber stets gemieden. „Er machte auf mich immer einen brutalen Eindruck“, sagt die 55-Jährige.

Ob Sven N. in die Gegend zurückkehren wird, ist derzeit noch nicht klar. „Ich würde ihm raten hier nicht mehr so schnell aufzutauchen“, sagt Burak K. „Wenn ich umgekommen wäre, wären meine Jungs sofort unterwegs, um denjenigen, der das getan hat, fertig zu machen.“ So funktioniere es hier unter Freunden, erzählt der junge Mann. Wenn einer der Kumpels Streit habe, würden die anderen bedingungslos hinter ihm stehen. Der Zusammenhalt innerhalb der Gruppen, die sich meistens nach Nationalitäten sortieren, sei sehr stark. Ein Anruf und alle Kumpels seien sofort zur Stelle. Der Grund für einen Streit spiele dabei eine nachgeordnete Rolle. Töne, die auch im Bezirksamt Neukölln Sorge auslösen. Anwohner diskutieren über Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD), der bereits zur Ruhe mahnte, um eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern. Für den Tagesspiegel war Buschkowsky aber nicht zu sprechen.

An Ort und Stelle kümmern sich derzeit das Quatiersmanagement der „Weißen Siedlung“ um die Jugendlichen. Auch hier kennt man die Gefahr einer Vergeltungsaktion, die zu weiterer Gewalt führen könnte. Anzeichen gebe es bislang allerdings nicht, versichert Mitarbeiterin Cindy Gill. Es gehe momentan darum, die Jugendlichen in ihrer Trauer aufzufangen. Es müsse ihnen ein Ort gegeben werden, wo sie sprechen und ihre Trauer verarbeiten können. Sozialarbeiter und  Streetworker arbeiten im Jugendzentrum derzeit an Strategien, die der Deeskalation dienen sollen.

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