zum Hauptinhalt
Evangelischer Friedhof Alt-Schöneberg in Berlin-Schöneberg.

© Doris Spiekermann-Klaas

Michael Brauer (Geb. 1941): Musste nichts, konnte fast alles

Er war ein eher ungewöhnlicher Bibliothekar. Wer Bücher zu spät abgab, musste Klimmzüge machen oder mit ihm Dart spielen. Der Nachruf auf einen Exoten

Michael liebte diese Badewanne. Wie sie dastand, im Freien, unter den Obstbäumen, sogar mit warmem Wasser. Da legte er sich gerne rein, genoss die Wärme, die Sonne und sein Leben, das er irgendwie in der Bonhoeffer-Nervenklinik geparkt hatte. Fünf Jahre verbrachte er hier mit Mitte 20. Er musste nichts und konnte fast alles, sie ließen ihn spielen, basteln, Musik hören, lesen, sich mit den anderen anfreunden, mit den Schwestern und Ärztinnen flirten. Herrlich.

Wie er reingekommen war? Sein Leben war heftig und hemmungslos, und manchmal kam es vor, dass er, völlig von der Rolle, wie wild um sich schlug. Einmal traf es seine Mutter. Die Polizei nahm ihn mit, er landete vor Gericht, wurde aber als schuldunfähig eingestuft. Also: Bonnys Ranch, wie die Bonhoeffer-Klinik genannt wurde. Aufenthaltsdauer: unbestimmt.

Woher die Wut kam? Vielleicht lag es am Kiffen, vielleicht an was anderem, so genau weiß das keiner mehr. Woran die Freunde sich erinnern, ist seine Freude am Genuss. Das Haschisch zum Beispiel genoss er sehr. Selbst als er schon über 70 und in Rente war, ging er raus, suchte seine Quellen auf, drehte sich einen Joint und freute sich.

Überhaupt hatte Michael Anspruch und Feingefühl. Was der alles schmecken konnte. Ein Pfirsich war bei ihm nicht einfach ein Pfirsich. Er ließ sich die Nuancen im Mund zergehen. Das Pelzige, wenn er dann mit der Zunge vorstieß, die weiche Süße. Oder die Musik. An die 10.000 Platten und 5000 CDs und Kassetten stapelten sich in seiner Wohnung. Jazz, Klassik, alles was Niveau hatte, sorgfältig katalogisiert, in selbst gezimmerten Regalen verstaut, vom Boden bis zur Decke. An die Regale hatte er Armbanduhren genagelt, die er mit Ölfarbe bemalt hatte. Und wo an den Wänden noch Platz war, hingen seine Ölbilder oder ein paar seiner tausend Fotos von Blumen, die er am Teltow-Kanal aufgenommen hatte.

Die Frauen, die liebte er auch. Und sie liebten ihn. Er mag ein bisschen pummelig gewesen sein, vor allem aber war er exotisch und: Er hörte ihnen zu. Michael hatte etwas, das ihre Herzen entflammte.

Zurück auf Bonnys Ranch, wo ihn irgendwann doch ein Funke Sehnsucht heimsuchte. Er schrieb eine Postkarte an einen Freund, einen Richter am Landgericht, einen leisen Hilferuf. Der Freund kam ihn besuchen. „Mensch, ist das dein neues Zuhause?“, fragte er. „Ja“, sagte Michael, „nett hier, was? Ein bisschen groß für mich.“ Der Freund kam dann öfter, sie spielten Backgammon und Tischtennis und schließlich schmuggelte er Michael im Kofferraum seines VW-Busses für gelegentliche Ausflüge nach draußen. Und plötzlich, nach fünf Jahren „Nervenheilung“, entließen sie ihn. Die neue Anstaltsleitung sah keinen Grund, ihn länger durchzufüttern.

Da stand Michael nun und wusste nicht weiter. Arbeiten, Karriere, einem Lebenstraum nacheifern? Einen Lebenstraum hatte er nicht. Er spielte gern Skat und Schach, blieb bis drei Uhr nachts wach, schlief bis mittags, kiffte, und wenn das Geld knapp wurde, fragte er bei seinen Freunden nach einem kleinen Kredit. Das war schon okay; für Michael, der so anders war als sie, taten sie es gerne.

Bewerben Sie sich wenigstens mal, sagte man auf dem Amt zu ihm. Ein bisschen was sollte er schon für seine Stütze tun. Gut, dann er bewarb sich eben. Er wurde sogar eingeladen. In die Universitätsbibliothek des Ethnologischen Instituts der Freien Universität. Ungewaschen, ungekämmt, dreckiger Anzug, eine halbe Stunde zu spät, maulfaul trat er dort auf. Was soll’s?

Na ja, es war kein anderer Bewerber da, sie nahmen ihn.

Michael hatte plötzlich einen Job. Und den erledigte er auf seine Weise. Wenn jemand seine Bücher zu spät abgab, musste er ein bisschen beim Büchersortieren helfen. Oder Klimmzüge machen. Oder Dartpfeile oder Ringe werfen. Michaels Strafen variierten. Bei ihm konnte man aber auch Tee trinken, reden, auf dem Hof Tischtennis spielen, Gymnastik machen und tanzen. Musik hören sowieso. Oft ließ er die Bibliothek bis in die Nacht auf. Linke Gruppen trafen sich, um die Weltrevolution zu planen, wahlweise auch nur den nächsten Streik. Wer einsam war, kam in die Bibliothek, um mit Michael zu Abend zu essen.

Natürlich war das alles überhaupt nicht in Ordnung. Es hagelte Abmahnungen und Verweise von Vorgesetzten. Michael machte weiter wie gehabt. Am Ende, nach 20 Jahren, war es die Rente, die ihn wieder zurück nach Hause brachte.

Dort lockte er die Krähen auf seinen Balkon und freundete sich mit ihnen an. Spielte mit seinen Freunden Skat und Schach. Zog durch die Gegend, sammelte ein, was er glaubte zu brauchen. Ein Billardtisch stand in seiner Wohnung, darauf eine Tischtennisplatte. Schmale Gänge führten zum Bett, in die Küche, auf den Balkon. Irgendwann hat er genug gespielt, ist genug um den Schlachtensee gelaufen, hat genug gemalt, genug gekifft und genug Musik gehört. Als es so weit war, legte er sich auf sein Bett und starb.

Die Nachrufe der vergangenen Wochen lesen Sie hier

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false