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Berlin: Michel Jounievy (Geb. 1951)

Ein Meister des stillen Drehen und Wendens

Er war der freundliche, korpulente Franzose vom Winterfeldmarkt, der Sommer wie Winter in schwarzen Clogs, blauer Hose und im dünnen Küchenmantel aus einem großen Topf flüssigen Teig schöpfte, über zwei Heizplatten verteilte und in Windeseile zu süßen Crêpes buk. Er bot sie in klassischen Variationen an: Gezuckert mit etwas Butter, wahlweise mit Bitterschokolade, verschiedenen Confitüren oder flambiert mit einem Schuss Grand Marnier.

Über 30 Jahre lang betrieb Michel Jounievy sein Berliner Crêpes-Business. Anfangs als freier Tageshändler, später mit festem Vertrag für einen kleinen Platz auf dem Winterfeldmarkt. Jeden Mittwoch und Samstag schob er früh am Morgen seinen umgebauten Fahrradanhänger auf den Platz, heizte die beiden Platten an und begann mit großer Löffeleleganz, einen Crêpe nach dem anderen herzustellen. Viele Worte machte er dabei nicht. Er war ein Meister des stillen Drehen und Wendens, und doch wirkte er auf jeden sympathisch. Nicht selten fand sich eine lange Schlange vor seinem kleinen Stand.

Kindern schenkte er manchmal einen Crêpe direkt in die Hand, und seine Augen strahlten dabei. Leuchtend blaue Augen waren das, die so viel Licht und Sonne gesehen hatten, dass ihnen 32 dunkle Berliner Winter nichts anhaben konnten.

Geboren in Chamblet, einem Dorf in der Auvergne, mitten im südlichen Frankreich, ging er nach einer Ausbildung zum Pfannenbauer zur Armee nach Afrika. Aber mit dem Drill kam er dann doch nicht zurecht, er brauchte die Freiheit. Zurück nach Frankreich wollte er nicht, also zog er in die Karibik, und von dort von einem Ort zum anderen, drei Mal um die Welt. Ende der Siebziger landete er schließlich in Berlin. Das Crêpes-Geschäft und die relative Nähe zur geliebten Mutter in der Auvergne ließen den Weltenbummler sesshaft werden.

Wo immer er zuvor gelebt hatte, stets hatte er einen Job als Koch gefunden. In New York war er eine Zeit lang Küchenchef in einem französischen Restaurant. Nach der Arbeit ging er hinaus, kaufte sich ein Eis, bummelte die Straße hinunter, genoss den Anblick der vielen Menschen, gelangte zum nächsten Eisstand, kaufte sich ein zweites Eis, zog weiter zum nächsten, bis kein Eisladen mehr zu finden war. In vollen Zügen genießen, das konnte er, das sah man ihm auch an. Wenn es aber sein musste, lebte er auf kleinster Sparflamme. In Brasilien wäre er mal fast verhungert. Bescheidenheit war keine Zierde für ihn, sondern seine Unabhängigkeitsgarantie. Hilfe anzunehmen, fiel ihm schwer. Lieber trank er tagelang Wasser, als dass er jemanden um Geld gebeten hätte.

Seine sieben Sachen passten allesamt in einen Rucksack. Erst in Berlin legte er sich einen kleinen Hausstand zu. In der winzigen Erdgeschosswohnung in Wedding beherbergte er ein paar Röhrenradios und einen schnieken Hifi-Schrank. Gern legte er eine Platte mit Chansons von Jacques Brel auf.

Ungesellig war er nicht, aber ein kleines Mysterium umgab ihn dennoch. In Schweden hatte er mal mit einer Frau zusammengelebt, doch niemand weiß, was daraus wurde. Nur einem öffnete er sich: Lucien, den er kurz nach seiner Ankunft in Berlin kennenlernte, auch er Franzose. Michel stiftete ihn zu Streifzügen durch die Nacht an und bot ihm übergangsweise eine Bleibe. Die Freundschaft hielt, auch als Lucien mit seiner Familie für einige Jahre nach Korsika und weiter nach Tahiti zog.

Einmal noch unterbrach Michel sein Berliner Crêpes-Business und zog wieder durch die Welt. Von allen Orten, an die er kam, schrieb er Lucien eine Karte, immer mit dem einen Satz: „Bonjour, Michel“. Für Luciens Kinder war Michel immer „le gros Michel“, der dicke Michel. Er holte sie hinter seinen Stand, hob sie in die Höhe, warf sie in die Luft und buk ihnen dann einen süßen Crêpe.

Michel konnte gut Rock ’n’ Roll tanzen, aber nicht über einen Abend hinaus. Sein Körper machte ihm mehr und mehr zu schaffen. Ärzte bescheinigten ihm früh ein hohes Thromboserisiko. Zuletzt rieten sie ihm, sich einer Beinamputation zu unterziehen. Wie sollte er dann aber noch seinen Fahrradanhänger schieben und die schweren Eimer schleppen? Das Crêpes-Geschäft und seine Unabhängigkeit waren Michel wichtiger als seine Gesundheit. Seelenruhig wartete er auf seinen letzten Gast. Dessen fahles Antlitz konnten seine blauen Augen leichthin überstrahlen.

Die Kinder von Lucien haben Michels Crêpes-Stand auf dem Winterfeldmarkt übernommen. „Sie müssen noch einiges lernen“, sagt eine Kundin der ersten Stunde. Er und sein umgebauter Fahrradanhänger sind zur Mutter in die Auvergne zurückgekehrt.Stephan Reisner

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