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Der Landrat des brandenburgischen Landkreises Barnim, Daniel Kurth (SPD), bei einer Pressekonferenz mit Sozialdezernentin Yvonne Dankert.

© Patrick Pleul/dpa

Update

Staatsanwaltschaft ermittelt: Vernachlässigtes Mädchen aus Eberswalde ist in Obhut

Ein Mädchen in Brandenburg soll in extrem verwahrlostem Zustand in ein Krankenhaus gebracht worden sein. Die Familie war den Behörden schon länger bekannt.

Ein fünfjähriges vernachlässigtes Mädchen in Eberswalde ist nach mehreren Jahren erfolgloser Hilfeversuche in die Obhut der Behörden gekommen. Nach einer Gefährdungsmeldung sei das Kind im Krankenhaus zur Behandlung gewesen, habe es aber wieder verlassen können, sagte der Landrat des Kreises Barnim, Daniel Kurth (SPD), am Montag. „Wir (mussten) feststellen (...), dass das Kind nicht die Fürsorge und Pflege und Liebe seiner Eltern bekommen hat, die es gebraucht hätte.“ Der Kreis sprach von Anzeichen von Unterernährung und Sprach- und Verhaltensauffälligkeiten. Das Kind befinde sich seit dem 20. Dezember in sicherer Obhut.

Die Familie war den Behörden schon länger bekannt. „Wir sind mit dem Jugendamt der Kreisverwaltung Barnim bereits seit Mitte 2017 bemüht, Hilfe in diese Familie zu bringen“, sagte der Landrat. Sozialdezernentin Yvonne Dankert berichtete, eine erste Meldung über die Familie habe es 2017 gegeben. Alle Hilfsversuche blieben laut Kreis zunächst erfolglos. Ab November 2019 habe eine beim Amtsgericht erwirkte Familienhilfe Einblick in die Familienstruktur ermöglicht. Eine Mitarbeiterin aus dem Kinderschutz habe dann eine Gefahrenmeldung abgegeben.

Die beiden Geschwister kamen dem Kreis zufolge zeitgleich mit dem Mädchen in Obhut. Bei ihnen gebe es jedoch keine Hinweise auf eine derartige Vernachlässigung wie bei dem Mädchen, sagte Dankert. Zu Eltern und Wohnumfeld machte der Landkreis keine Angaben.

Die „Märkische Oderzeitung“ hatte am Samstag berichtet, das Mädchen habe jahrelang kein Tageslicht gesehen, solle mindestens zwei Jahre auf sich allein gestellt gewesen sein und habe einen verwahrlosten Eindruck gemacht. „Das können wir nicht bestätigen“, sagte der Landrat. Der endgültige Bericht des Krankenhauses stehe noch aus.

Aufgrund des Zeitungsberichts ermittelt nun die Staatsanwaltschaft. „Wir haben aufgrund der Presseberichterstattung ein Ermittlungsverfahren eingeleitet“, sagte Staatsanwalt Ingo Kechichian am Montag und bestätigte einen Bericht der „Bild“-Zeitung. Es werde wegen des Vorwurfs der Misshandlung von Schutzbefohlenen gegen Unbekannt ermittelt.

Die Polizei leitete nach eigenen Angaben von Amts wegen ein Ermittlungsverfahren wegen der Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht ein. Zum Schutz des Kindes und mit Hinweis auf die Ermittlungen gab sie zunächst keine weiteren Auskünfte. Die Einweisung des Mädchens in die Eberswalder Klinik sei unter Mitwirkung des Jugendamtes erfolgt, sagte die Sozialdezernentin des Kreises Barnim, Yvonne Dankert.

Kreis reagiert auf Forderung des Jugendministeriums

Das Brandenburger Jugendministerium forderte den Kreis zu einer Stellungnahme auf. Das Ministerium hat – als oberste Landesjugendbehörde des Landes – die Rechtsaufsicht über die Jugendämter der Landkreise und kreisfreien Städte und prüft regelmäßig, ob die Jugendämter ihren rechtlichen Verpflichtungen nachkommen.

Nur wenn sich herausstellen sollte, dass das Jugendamt seinen Pflichten nicht ausreichend nachgekommen ist, werde zu entscheiden sein, ob ein rechtsaufsichtliches Verfahren durch das Ministerium eingeleitet werden muss, teilte das Ministerium mit. „Höchste Priorität genießt in jedem Fall die Sicherung und Wahrung des Kindeswohls“, heißt es in einer Mitteilung des Ministeriums.

Ein Stoff-Teddy sitzt auf dem Boden (Symbolfoto).
Ein Stoff-Teddy sitzt auf dem Boden (Symbolfoto).

© imago/Christian Ohde

Daher werde in jedem Fall versucht, so schnell wie möglich mit der gebotenen Sensibilität, aber auch mit der erforderlichen Stringenz den betroffenen Kindern und Jugendlichen zu helfen. Es gebe – weder nach Bundes- noch nach Landesrecht – eine Pflicht für die Jugendämter, dem Ministerium besondere Vorkommnisse zu melden.

Zudem gebe es keine allgemeine Rechtspflicht der Jugendämter, Strafanzeige zu erstatten. Allerdings empfehle das Jugendministerium den Jugendämtern, falls Anhaltspunkte für Straftaten vorliegen, die Strafverfolgungsbehörden zu informieren. So werde auch im Jugendministerium verfahren. In Brandenburg wurden Ministeriumsangaben zufolge 1947 Kinder im Jahr 2018 in Obhut genommen – davon 85 Prozent wegen einer Gefährdung.

Mädchen hat das Krankenhaus wieder verlassen

Der aktuelle Fall erinnert an den Fall Jennifer aus dem Dorf Lübbenow in der Uckermark, der 2009 bekannt geworden war. Eltern versteckten ihre Tochter, die bei der Entdeckung 13 Jahre alt war, jahrelang vor der Öffentlichkeit, schickten sie weder zum Arzt noch zur Schule – angeblich, weil ihnen die Behinderung des Mädchens unangenehm war.

Besonders prekär an dem Fall: Dem Jugendamt war die Familie mit drei Kindern seit 2006 bekannt, Mitarbeiter besuchten sie wegen Problemen mit den beiden anderen Kindern – dass die behinderte Tochter verwahrloste, komplett abgeschottet wurde, bemerkte bei der Behörde jahrelang niemand.

Ein Nachbar war es schließlich, der sich an die Behörden wandte. Ihm war aufgefallen , dass drei Kinder zu der Familie gehörten – aber immer nur zwei auf der Straße, im Bus oder auf dem Schulweg zu beobachten waren. 

Sanktionen für nachlässige Eltern nur schwer möglich

Die Eltern wurden im August 2010 wegen gemeinschaftlich begangener Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht zu Bewährungsstrafen von jeweils neun Monaten verurteilt. Jennifer wurde damals wie das nun entdeckte Mädchen in ein Eberswalder Krankenhaus eingeliefert, auch sie war stark verwahrlost. Wie sich herausstellte, hatte das behinderte Mädchen auch im Kleinkindalter nie einen Arzt gesehen.

Darauf wurden Forderungen laut, die U-Untersuchungen für Kinder zur Pflicht zu machen. Das ist rechtlich aber nicht so einfach umzusetzen, hieß es vom Land. Brandenburg hat vielmehr ein Einladungssystem eingerichtet: Eltern werden seit 2008 schriftlich an die Früherkennungsuntersuchungen beim Kinderarzt erinnert.

Wird das Kind trotzdem keinem Arzt vorgestellt, wird ein Erinnerungsschreiben verschickt. Reagieren die Eltern immer noch nicht, werden die Daten des Kindes  an das zuständige Gesundheitsamt übermittelt, das „motivierende Maßnahmen“ einleiten kann.

Sanktionen für nachlässige Eltern sind aber nicht möglich. Dennoch zeigt offenbar schon dieses Mahnsystem Wirkung: Im Jahr 2008 waren insgesamt 19.931 Kinder bei den sogenannten U-Untersuchungen, 2017 waren es schon 23.077. Vor allem bei Familien mit niedrigem Sozialstatus stieg der Anteil der Kinder, die nun regelmäßig vom Arzt untersucht werden. (mit dpa)

Marion Kaufmann

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