zum Hauptinhalt

Euthanasieverbrechen in Berlin-Buch: "Mir wurde Wissenschaftsbeschmutzung vorgeworfen"

Berlin-Buch ist bekannt für seine Heilstätten und Krankenhäuser. Was lange verschwiegen wurde: Die Heilanstalten waren während der NS-Zeit Schauplatz von Euthanasieverbrechen. Rosemarie Pumb erforscht diese seit Jahrzehnten.

Frau Pumb, am 21. Juni wird in Buch ein Denkmal für den Arzt Walter Schönebeck und seine zehn Retter eingeweiht. Worum geht es dabei?

Walter Schönebeck, Sohn einer getauften Jüdin, war Arzt in Buch und wurde nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten seiner Arbeitsstelle wie auch seiner Dienstwohnung gekündigt. Als er sich zum 1. September 1943 im Zwangsarbeiterlager Karow melden sollte, wurde er von einem Unterstützerkreis, darunter acht Bucher und zwei französische Kriegsgefangene, über zwei Jahre in einer trockengelegten Jauchegrübe hier im Ort versteckt und am Leben gehalten. Nun wird für diese Menschen eine Stele auf dem Bucher Kirchhof errichtet.

Was hat Sie zur Errichtung dieser Stele angetrieben?

Es ist die Hoffnung, durch Erinnerung und Beispiel bei möglichst vielen Mitmenschen den Mut zur Hilfsbereitschaft und die Widerstandskraft der Seelen der Menschen zu stärken. Viele Menschen verdrängen die Geschichte von Buch immer noch. Mir wurde im Laufe meines Lebens oft Wissenschaftsbeschmutzung vorgeworfen. Auch das Denkmal wollte man anfangs nicht. Doch im Augenblick ändert sich die Stimmung.

Erst Sie haben durch das Durchforsten von zehntausenden Sterbeurkunden Patiententötungen während der NS-Zeit in allen fünf Bucher Krankenanstalten nachweisen können. Darüber haben Sie 2012 das Buch „Ein Ort schweigt“ veröffentlicht. Warum wurde so lange darüber geschwiegen?

Natürlich hat zu NS-Zeiten niemand über die Euthanasieverbrechen gesprochen. Es wurde hinter vorgehaltener Hand immer wieder geredet, aber es wurde nie in der Öffentlichkeit thematisiert. Und was mich so fassungslos macht: Zu DDR-Zeiten wurde noch weniger darüber gesprochen. Auch nicht über das Elend der ungefähr 1.000 nach Buch verschleppten Zwangsarbeiter.

Warum wurde das in der DDR verschwiegen?

In den 60er Jahren plante die DDR-Regierung in Buch den prestigeträchtigen Bau der weltweit größten und modernsten Krankenhausanlage, was allerdings nie ganz realisiert werden konnte. Tatsächlich kam neben zwei modernen Forschungskliniken in den 70er Jahren das Regierungskrankenhaus und ein Krankenhaus für das Ministerium für Staatssicherheit hinzu. Während der DDR wurde bestritten, dass es Euthanasieverbrechen in Buch gab. Wie unverschämt dabei gelogen wurde, belegen Akten des Staatssicherheitsdienstes und der Berliner Staatsanwaltschaft von 1968, die in Vorbereitung eines „Euthanasie-Prozesses“ der Oberstaatsanwaltschaft Köln nach dreijähriger Ermittlung „derlei Vorkommnisse“ in Buch verneinen.

Wie ging man in der DDR mit psychisch kranken Menschen um?

Ich war ab Ende der 60er Jahre als Referentin in Ost-Berlin für ein Pilotprojekt zur beruflichen Rehabilitation psychisch Kranker und Hirngeschädigter verantwortlich. Wie auch heute, scheuen Betriebe vor solchen Aufgaben zurück. Ich hatte stets mit den Leitern der infrage kommenden Institution oder Einrichtung zu tun. Was ich damals feststellen musste: In der DDR herrschte dieselbe soziale Grundhaltung psychisch Kranken gegenüber wie bei den Nationalsozialisten. Aus denen wären ja keine richtigen Sozialisten zu machen, denn die seien ja krank. Ich habe von Leuten mit Parteiabzeichen Sätze gehört wie: „Hätten sie die mitvergast, hätten wir heute die Probleme nicht mehr.“

Wann haben Sie dann angefangen, Archivbestände aus der Zeit des Nationalsozialismus zu sichten?

Das kam langsam mit der Gründung des Bucher Boten 1993, für den ich heute noch schreibe. Die genaue Recherche begann um das Jahr 2000 in Kirchen- und Friedhofsarchiven. Ich habe viele Bände von Sterbeurkunden aus dem Standesamt Pankow durchforstet. Dabei stellte sich heraus: In Buch gab es ab 1935 in den einzelnen Kliniken Schübe von Todesfällen. Von 1934 auf 1935 haben sich die Sterbezahlen auf insgesamt 2.832 verdoppelt. Auch in den Folgejahren stiegen sie beständig an, bis zum Höhepunkt 1942 mit 5.695 beurkundeten Todesfällen.

Haben Sie in den Akten etwas über die Tötungsmethoden der Nazis herausgefunden?

Die Patienten starben an gezielter Unterernährung oder erhielten vielfach Schlafmittel. Der Bucher Hauptapotheker beschwerte sich schriftlich, dass von 11.000 Reichsmark nur 10 Prozent für Medikamente ausgegeben wurden, der Rest waren Schlafmittel. Viele wurden auch in psychiatrische Einrichtungen mit Gaskammern wie in Bernburg oder Pirna verlegt. 2017 habe ich ein Dokument gefunden mit der Anweisung, dass das Personal die Patienten aussuchen soll, die „verlegt“ werden sollen. Ich interpretiere diese Anweisung so: Alle laden Schuld auf sich und jeder wird am Ende des Krieges schweigen.

Aber die Menschen, die zu dieser Zeit in Buch lebten, wussten trotzdem, was passierte?

Wie sollten sie nicht? Man arbeitete zusammen und wohnte gewissermaßen Gartenzaun an Gartenzaun! Die Transportbusse, auch Armeefahrzeuge waren für jeden zu sehen, Züge rollten über ein Anschlussgleis heran, Schranken wurden geöffnet und geschlossen, weniger Essen wurden bestellt, Angehörige beschwerten sich. Menschen wurden verladen, denen mit Rotschrift ihre Namen und Daten auf den Rücken geschrieben worden... Sie können mir glauben, ich bin beim Durchsehen der Bestände manchmal vor Entsetzen fast vom Stuhl gefallen.

Was haben sie in den Beständen noch vorgefunden?

Normales, Mutiges, Lächerliches wie die Einübung des Hitlergrußes, Entsetzliches wie Todesurteile, oder zum Beispiel die „Lumpenakte“, wie ich sie heute nenne. Das fängt darin ganz harmlos an: da bewerben sich Lumpenhändler um den Ankauf von Altsachen für den Endsieg. Auf der nächsten Seite finde ich Aufführungen, dass den Patienten die Goldzähne ausgebrochen wurden. Die Patienten umzubringen, um Ihnen die Zähne zu klauen – ohne mit der Wimper zu zucken. Der Befehl kam vom Verwaltungsleiter und dem ärztlichen Direktor, andere haben das dann ausgeführt.

Wer hat noch in den Heilanstalten gearbeitet?

Schon im Kaiserreich waren die Bucher Heil- und Pflegeanstalten das weltweit größte Klinikareal, mit Lungenanstalt, einer Forschungsklinik für Hirngeschädigte und der Ludwig-Hoffmann-Hospital. Es gab viele Arbeitsplätze. Viele Menschen kamen aus dem Osten und haben hier ohne Ausbildung in den Krankenhäusern gearbeitet. Ich habe das Tagebuch eines jungen Mädchens aus Lodz gelesen, die den Ersten und Zweiten Weltkrieg in Buch miterlebt hat. Es ist ein unglaubliches und seltenes Zeitdokument, das naiv und ungefiltert einen starken Eindruck der damaligen Zeit hinterlässt.

Klinik-Campus Buch. Links der Neubau des Helios Klinikums Berlin-Buch und das historische Klinikareal, das der damalige Stadtbaurat und Architekt Ludwig Hoffmann entworfen hat und das teilweise vom Helios Klinikum genutzt wird. Im historischen Teil befinden sich darüber hinaus die Helios Poliklinik, die Evangelische Lungenklinik Berlin, das Immanuel Krankenhaus Berlin (Spezialklinik für Rheumaerkrankungen) und die Akademie der Gesundheit Berlin/Brandenburg e.V. Foto: Thomas Oberländer/HELIOS Klinikum Berlin-Buch
Klinik-Campus Buch. Links der Neubau des Helios Klinikums Berlin-Buch und das historische Klinikareal, das der damalige Stadtbaurat und Architekt Ludwig Hoffmann entworfen hat und das teilweise vom Helios Klinikum genutzt wird. Im historischen Teil befinden sich darüber hinaus die Helios Poliklinik, die Evangelische Lungenklinik Berlin, das Immanuel Krankenhaus Berlin (Spezialklinik für Rheumaerkrankungen) und die Akademie der Gesundheit Berlin/Brandenburg e.V. Foto: Thomas Oberländer/HELIOS Klinikum Berlin-Buch

© promo

Wie haben die Nationalsozialisten die Heilanstalten übernommen?

Das ist eine verwaltungstechnische Angelegenheit. Nach und nach, hier geradezu brutal, wurden hunderte Mitarbeiter ausgetauscht, wie auch Walter Schönebeck, und durch Parteigänger ersetzt.

Sie sind 1931 geboren, erinnern sie sich an die Zeit des Nationalsozialismus?

Ich habe ein sehr frühes Gedächtnis. Wo meine Erinnerungen besonders stark sind, das war zu Kriegszeiten. Ich war die Älteste von vier Geschwistern und bei Fliegerangriffen musste ich sie in den Keller bringen. Mehr zu schaffen haben mir allerdings die vielen Zwangsarbeiter in Buch gemacht. Auch für die toten Zwangsarbeiterkinder haben wir eine Gedenktafel errichtet.

Mittlerweile wurden durch Ihre Initiative mehrere Denkmäler und Gedenkstätten erbaut. Was ist noch zu tun in Buch?

Es gibt hier noch Straßennamen, wie die Robert-Rössle-Straße, die an einen nationalsozialistischen Arzt erinnert, der für Menschenversuche verantwortlich war. Er hat auch in der BRD das Bundesverdienstkreuz erhalten. Ich denke, das müsste man dringend ändern. Es ist aber durch die Arbeit mit Schülern schon viel passiert. Mir geht es darum, dass der Mensch begreift, dass wir alle von der gleichen psychischen Struktur sind und immer verführbar bleiben.

Haben Sie Angst, dass sich die Geschichte wiederholt?

Ich denke, heute würde nichts Anderes passieren, als was damals während des Nationalsozialismus passiert ist. Nämlich, dass wir alle mitmachen würden, aus Angst um unsere eigene Existenz. Etwa 70.000 Fitnessstudios gibt es in Deutschland, Hunderttausende stählen dort ihre Muskeln. Ich fürchte jedoch, unsere emotionale Grundausstattung stammt größtenteils noch aus der Steinzeit. Wo und wie stärken wir also unsere Seelen und unseren Mut? Ich habe auch mich oft mutlos erlebt, aber man muss einfach etwas dafür tun.

Fabian Schmidinger

Zur Startseite