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Berlin: Mirko (Geb. 1958)

Das war ihm wichtiger als alles andere, normal sein, dazugehören

Manches fühlt sich so beschämend an, ist so behaftet mit Verletzungen, das nimmt man lieber mit ins Grab. Bei Mirko war es die Zuneigung zu Männern. Seine Eltern ahnten nichts, seine Geschwister vielleicht schon, auch einige Kollegen, aber Mirko blieb bis zuletzt standhaft dabei: Er sei ein Hetero, „ein ganz normaler Mann“. Das war ihm wichtiger als alles andere, normal sein, dazugehören.

Zu Hause waren sie fünf Geschwister, der Vater arbeitete bei der Reichsbahn, die Mutter führte den Haushalt. Mirko lernte erst spät sprechen und stotterte, wenn er sich aufregte. Und das tat er oft. „Ick war uff de Baumschule“, sagte er später, wenn das Gespräch darauf kam, ob einer Haupt- oder Realschüler oder Gymnasiast gewesen war. Baumschule bedeutete Sonderschule.

Immerhin fand Mirko eine Arbeit, als die Schulzeit zu Ende ging. Da war er 14. Ein Betrieb in Friedrichshain nahm ihn als Lehrling und gab ihm anschließend einen festen Arbeitsplatz.

Mirko behielt den Job, als der Betrieb nach der Wende verkauft wurde. Bei vielen Klassenkameraden lief es weniger gut. Ihrem Wehklagen über den Untergang der DDR konnte sich Mirko nicht anschließen. Er durfte jetzt mit seiner Mutter und dem Westgeld, das er verdiente, verreisen. Sein Geld war richtig was wert. Das machte ihn stolz.

Er pflegte seine Eltern, als sie krank wurden, bis zum Ende. Danach war er ganz allein, eine große, beklemmende Freiheit tat sich vor ihm auf. Die Arbeit bot Halt, Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht. Mirko wusste über Monate im voraus, wann er zur Arbeit antreten würde. Er hatte den Schichtplan im Kopf, persönliche Dinge ordneten sich ein: schlafen, einkaufen, fernsehen. Viel mehr war da nicht. Mirko hatte keine Freundin und wenig Freunde, er lebte in einer Einzimmerwohnung, Plattenbau, Hohenschönhausen. Selbst das wusste kaum jemand.

Im Betrieb tat Mirko so, als habe er Familie, eine Durchschnittsexistenz mit Haus und Garten, erzählte vom Urlaub in Spanien, von Wochenendausflügen, von den Problemen des Alltags. Wenn ein Kollege berichtete, wie er seinen Gartenteich vor Algen schützt, hatte Mirko beim nächsten als Geplauder getarnten Kräftemessen auch einen Gartenteich. Da horchten die Kollegen auf: Sieh mal an, der Mirko, hätte man ihm gar nicht zugetraut. Es gab ja immer Gerüchte, er sei schwul, einmal warf ihm ein Kollege ein Männer-Pornomagazin vor die Füße. Mirko litt Höllenqualen und webte seine Legende vom Normalsein umso fester. Wie eine Schutzweste umgab sie ihn. Die Hochzeit mit einer Kubanerin, die keine Aufenthaltserlaubnis hatte, stärkte seine Legende. Die Anfeindungen ließen nach.

Die Ehe existierte nur auf dem Papier, an seiner Einsamkeit änderte sie nichts. Mirko wagte sich auf ein Internet-Dating- Portal für Männer, die Sex mit Männern suchen. So lernte er jemanden kennen, der sich zwar nicht in ihn verliebte, der aber seine Verletzungen spürte, die Kraft, mit der er sich behauptete, und die Wärme, die er ausstrahlte. Dieser Mann wurde bald sein bester, wahrscheinlich sein einziger wirklicher Freund.

Mirko konnte sich gut Zahlen merken, installierte Telefonanlagen, ohne auf die Gebrauchsanleitung zu schauen, wusste Rat, wenn sich sein Freund über den schlechten Service eines Viersterne-Hotels beschwerte. „Sterne sind ja nicht fürs ganze Leben vergeben.“ Mirko wusste so was aus dem Fernsehen.

Was er nicht gut konnte, war, sein Geld zusammenzuhalten. Kontoauszüge, Rechnungen und Briefe von Ämtern stopfte er in einen großen Sack, damit war erst mal Zeit gewonnen. Was er aber wie einen Schatz hortete und auch gerne mal herumzeigte, war der jährliche Auszug von der Landesversicherungsanstalt: Seine Rente würde deutlich vierstellig ausfallen. Sein bester Freund, Ex-Student der Politikwissenschaft, hier mal eine befristete Stelle, dort mal ein Praktikum, wird rentenmäßig nie Mirkos Niveau erreichen.

Mirko ging mit strengster Regelmäßigkeit zur Arbeit, machte ohne Murren Sonderschichten, fehlte nie, lebte bescheiden. Aber sein Konto war im Minus, von Jahr zu Jahr tiefer. Wem er sein Geld abtrat, erzählte er nicht.

In seiner Freizeit fotografierte Mirko die Publikumsattraktionen der Stadt: Karneval der Kulturen, Christopher Street Day, Marathon, Tag der offenen Tür bei der Berliner Feuerwehr oder im Roten Rathaus, Lange Nacht der Museen. Höhepunkt war die Reise zum Kölner Karneval.

Vor kurzem zog er nach Spandau um, in die Männer-WG seines besten Freundes: ein junger Akademiker, ein älterer pensionierter Ministerialbeamter und Mirko, der Malocher von der Baumschule. Das war sein großes Glück. Das Bekenntnis, schwul zu sein, kam ihm trotzdem nie über die Lippen. Deshalb ist hier auch von „Mirko“ die Rede. Seinen wahren Namen hätte er niemals über seiner wahren Geschichte geduldet.

Auch das Krankwerden behielt er für sich. Bluthochdruck, Herzprobleme, Asthma, die Folge von 35 Jahren Schichtbetrieb. Aber Mirko dachte keinen Moment daran, im Betrieb um Rücksicht zu bitten. Zuverlässigkeit hieß Anerkennung. Für andere war er zum Betriebsrat gegangen, immer wieder, jetzt hatte er Angst, selbst eine Schwäche einzugestehen.

Am nächsten Morgen um drei sollte seine Frühschicht beginnen. Aber Mirko kam am Abend nicht nach Hause. Er war in die Stadt gefahren, zum Bummeln. Unterwegs ließ ihn sein großes Herz im Stich. Thomas Loy

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